Brilon. Jens Niggemann (42) aus Brilon sitzt im Rollstuhl – wegen eines Behandlungsfehlers in einer Mescheder Klinik. Hier erzählt er seine Geschichte.
Jens Niggemann und seine Familie haben das Vertrauen in Ärzte verloren. Nach 30 Operationen, noch mehr Krankenhausaufenthalten und verschiedensten Diagnosen kann Jens Niggemann (42) aus Brilon nicht mehr laufen, ist querschnittsgelähmt und hat eines seiner Beine verloren – wegen eines Behandlungsfehlers. Er beschließt gemeinsam mit seiner Familie, das dafür verantwortliche St. Walburga Krankenhaus in Meschede zu verklagen und bekommt Recht. Schmerzensgeld und Folgekosten erstreitet Rechtsanwalt Oliver Brockfür die Familie. Sein Leben, wie es vor all den Untersuchungen, den Krankheiten und den ärztlichen Fehlern war, bekommt Jens Niggemann nicht zurück.
Jens Niggemann fühlt sich seltsam, er spürt die ersten Anzeichen des Herzinfarkts
Sieben Jahre ist es her. Jens Niggemann selbst Pfleger in einer Reha-Klinik, ist auf der Arbeit für einen Kollegen eingesprungen. Er betritt gerade die Umkleidekabine, als er sich beklemmend fühlt. „Ich erinnere mich noch an den Notfallkoffer, den RTW. Ich hörte das Gepiepse vom EKG-Gerät. Es war ein komisches Gefühl“, sagt Jens Niggemann heute über den Moment, der sein Leben verändert. Er hört das Martinshorn des Rettungswagens. Mehrfach müssen die Sanitäter am Straßenrand halten, Jens Niggemann reanimieren. In Meschede wird der Briloner wieder ins Leben geholt. Diagnose: Herzinfarkt. „Wir fuhren sofort hin“, sagt seine Mutter, Renate Niggemann (66). Ihr Sohn ist da schon mit zahlreichen Schläuchen an Maschinen gebunden. Drei Wochen bleibt er auf der Intensivstation. Vier weitere auf der Inneren. Stents werden gesetzt, ein Herzschrittmacher. Später wird bei Jens Niggemann eine Vaskulitis festgestellt, mutmaßlich die Ursache des Herzinfarktes. Er bekommt hoch dosiertes Cortison. „Ich habe Fieberschübe bekommen, Fressattacken. Wegen des Cortisons“, erinnert sich Jens Niggemann. Er wird entlassen, fühlt sich ansonsten gut. Das war im Mai, 2015.
Im St. Walburga Krankenhaus Meschede werden zahlreiche Untersuchungen gemacht
Am 17. September 2015 wird er wieder im St. Walburga Krankenhaus aufgenommen. „Wegen seit 6 Tagen auftretender thoraktaler Beschwerden unter leichter Belastung.“ So wird es später im Urteil stehen. Jens Niggemann wird untersucht, ein Ruhe-EKG wird durchgeführt, Troponinwerte bestimmt. Ein erneuter Herzinfarkt kann ausgeschlossen werden. Ultraschall am 21. September. Gastroskopie am 22. September. Koronarangiografie am 23. September. Um 17 Uhr wird Jens Niggemann von der Koronarangiografie abgeholt. „Um neun Uhr abends hat er uns angerufen und gesagt, dass er seine Beine nicht mehr spüren kann“, sagt seine Mutter. „Die machen nichts, hat er gesagt.“ Im Urteil steht beschrieben, dass die Ärztin informiert wurde, die ein chirurgisches Konsil eingeholt habe. Sie empfahl ein MRT für den nächsten Tag. Stündlich meldet Jens Niggemann sich in der Nacht beim Pflegepersonal. Dieses lagert ihn stetig um, gibt Schmerzmittel und Baldrian. „Er hat geschrien und geschrien“, sagt sein Vater, Reinhard Niggemann.
Die Eltern kommen einen Tag später auf die Station in Meschede – da rennen alle schon
Er kommt am 24. September mit seiner Frau auf die Station. Der behandelnde Arzt spricht immer wieder nur von einer Blockade, „dass kommt gleich wieder“, sagt der Mediziner. „Mittags war die ganze Station in Aufruhr. Die Ärzte rannten wie verrückt, die Pflegerinnen haben nur Platz gemacht. Die Ärztin hat zu uns gesagt: Wir müssen schnell reagieren, sonst kann ihr Sohn nicht mehr laufen.“ Nachdem ein CT sowie ein MRT gemacht worden seien, wird er ins Klinikum nach Neheim geschickt. In der Stroke Unit kommt er um 16.41 Uhr an. Schon da besteht eine Querschnitssymptomatik mit Harn- und Stuhlinkontinenz. Seine Mutter sagt: „Dort hat er erbärmlich gelegen. Ich dachte, das war es.“ Am 25. September ergibt ein weiteres MRT den Befund: eine ausgedehnte spinale Blutung. Eine Operation wird nicht angesetzt. Am 9. Oktober wird wieder ein MRT durchgeführt, die diagnostizierte Blutung verifiziert. Nur vier Tage später wird Jens Niggemann am Herzen operiert, der Herzschrittmacher ausgetauscht. Dessen Sonden waren durch das MRT zerstört worden. Am 23. Oktober wird er in die Anschlussbehandlung entlassen, die Beine noch immer gelähmt, Harn- und Stuhlinkontinent. „Hätten die Ärzte innerhalb von acht bis zehn Stunden gehandelt, könnte Jens heute noch laufen“, sagt sein Vater. Doch so wurde die Blutung dick und hart - und unwiderruflich.
Die Ärzte geben der Briloner Familie immer wieder neue Antworten
„Er hat immer wieder gefragt, wann er wieder laufen kann“, sagt Renate Niggemann. Mal wird der Familie gesagt, dass es ein bis zwei Jahre dauern würde. Mal wird gesagt: „Verkaufen Sie alles, sie werden es nicht mehr brauchen.“ Jens Niggemann weiß nicht, wohin. „Sollte ich nach Hause? Muss ich zu geistig behinderten Menschen? Zu alten Menschen?“ Er kommt im Josefsheim unter, lebt irgendwann in einer eigenen Wohnung. Wegen der Harninkontinenz stehen weitere Untersuchungen an. Weitere OPs. Hautverpflanzung, Blasenkatheter, Anus Preater.
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Irgendwann ruft sein Bruder, Oliver Niggemann, bei den Eltern an, die zu dem Zeitpunkt im Urlaub sind. Jens habe sich das Bein gebrochen, wann sei unklar - er spürt ja nichts. Ein weiteres Martyrium beginnt. Das Bein wird dick, entzündet sich. Gefäße sind eingeklemmt. Es geht von einer Klinik zu nächsten. „Im Bein war alles verseucht, sie mussten es abnehmen“, sagt Renate Niggemann. Erst bis zum Knie, dann Stück für Stück. Irgendwann telefoniert Reinhard Niggemann mit dem behandelnden Arzt, mehr als 32 Minuten. „Wenn ein Arzt sich so viel Zeit nimmt, ist es ernst.“ Jens Niggemann wird danach das Bein bis zum Gelenk abgenommen. Acht Monate liegt er in der Uniklinik Bonn. Wegen der Pandemie sind Besuche kaum möglich. Am Nikolaustag bekommt er einen Schokonikolaus vom Chefarzt.
Jens Niggemann lebt mittlerweile in einer eigenen Wohnung
Juni 2021 kommt er nach Hause. „Da ging er an wie ein Licht“, sagt seine Mutter und lächelt. „Er hat so gekämpft, er kann sogar sitzen.“ Mittlerweile lebt Jens Niggemann in seiner eigenen Wohnung, kann sich waschen, anziehen. Reinhard Niggemann baut die Einfahrt am Haus um, damit sein Sohn von seinem Zimmer aus hoch ins Wohnzimmer fahren kann.
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Die Familie kämpft gemeinsam für Jens Niggemann. Stellt eigene Bedürfnisse zurück. Jeder Telefonanruf ist ein kleiner Schreck. Jeder Krankenhausbesuch traumatisierend. Die Kraft schwindet mit jeder Operation. Die Eltern wälzen Akten, kopieren abends um zehn Arztbriefe für die Kliniken. Jens Niggemann liegt währenddessen auf Zimmern mit alten und dementen Menschen. Sein Bruder sagt: „Einer von ihnen ist irgendwann aufgestanden und hat Jens’ Sachen durchwühlt, seine Schuhe angezogen. Und Jens kann sich nicht wehren.“ Jens Niggemann rastet schnell aus, wenn er wieder auf der Station liegt, in einem Krankenbett. Erträgt es nicht mehr.
Viele empfehlen, den Klageweg einzuschlagen – die Familie kontaktiert Oliver Brock
Viele empfehlen, dass die Familie klagen sollte. Zu viele Fehler seien passiert, in den Kliniken in Meschede und Arnsberg. „Wir hatten eigentlich keine Kraft dazu“, sagt Reinhard Niggemann, der selbst unter Diabetes Typ 1 leidet, kaum mehr belastbar ist. Doch irgendwann konsultieren sie den Rechtsanwalt Oliver Brock. Er warnt sie, das Verfahren könne lange dauern. Sie wagen es trotzdem. Während der Verhandlung sitzen sie auf dem Flur. „Brock hat für uns gekämpft wie ein Tier“, sagt Reinhard Niggemann. Schmerzensgeld wird ihnen zugesprochen. Denn in Meschede sei nicht schnell genug gehandelt worden. Nach der Koronarangiografie hätte man stundenlang die Blutung stoppen, eine Lähmung verhindern können. Das sieht auch der Gutachter so, der für das Verfahren hinzugekommen war. Dieser bestätigt: Im Gegensatz zum Klinikum in Meschede hat das Arnsberger Krankenhaus keinen Behandlungsfehler begangen. Als Jens Niggemann dort in der Stroke Unit angekommen war, wäre jede Hilfe zu spät gewesen. Oliver Brock erklärt gegenüber der WP: „Das St. Walburga Krankenhaus Meschede wurde durch das Landgericht Arnsberg zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verurteilt. Im Weiteren wurde antragsgemäß durch das Gericht festgestellt, dass das St. Walburga Krankenhaus sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden unseres Mandanten anlässlich der fehlerhaften Behandlung zu zahlen hat.“ Das Urteil ist rechtskräftig.
Die Klinik äußert sich auf Anfrage der Westfalenpost. „Wir bedauern den auf das Jahr 2015 zurückgehenden tragischen Behandlungsfall außerordentlich und drücken dem Patienten unser Mitgefühl aus“, lässt ein Sprecher wissen. Der Vorfall betreffe einen Zeitpunkt, an dem die Arnsberger Krankenhäuser und das St. Walburga-Krankenhaus in Meschede noch nicht verschmolzen gewesen seien. „Ein Verschulden des Klinikums Hochsauerland wurde vom Landgericht nicht festgestellt, die dementsprechende Klage des Patienten gegen das Klinikum wurde abgewiesen. Erst durch die im Jahre 2017 erfolgte Fusion der Arnsberger Krankenhäuser mit dem St. Walburga-Krankenhaus ist das Klinikum Hochsauerland nunmehr in die Aufarbeitung einbezogen“, heißt es weiter. 2017 wurden erste und kurzfristige Pläne für eine Fusion des St.-Walburga-Krankenhaus in Meschede und das Klinikum in Arnsberg bekannt.
Heute arbeitet Jens in einer Behindertenwerkstatt
Heute arbeitet Jens Niggemann in der Behindertenwerkstatt. Nur kurz, denn wegen des Herzinfarktes ist er schnell müde. Er ist unternehmungslustig, liebt die Natur. Das Leben der Familie ist ein anderes als sieben Jahre zuvor. Manchmal fühlt Jens Niggemann sich darin gefangen. Doch wenn er heute über die Zeit spricht, klingt er stark, zuversichtlich. „Alles ist gut“, sagt er. Und fügt dann hinzu: „Wenn nichts mehr passiert. Wenn ich gesund bleibe.“