Hochsauerlandkreis. Hohe Briefwahl verzerrt Wahlergebnis. Werden im Wahllokal zu wenig Stimmen abgegeben, kommen die Urnen in den Nachbarort. Das ist das Szenario.
Wenn bei der Bundestagswahl in einem Wahlbezirk weniger als 50 Stimmen abgegeben werden, dann bleibt die Urne verschlossen und muss in einem benachbarten Stimmbezirk ausgezählt werden. Das sieht ein Passus vor, der neu in der Bundeswahlordnung steht. Das gilt auch für den Hochsauerlandkreis. Und zu dieser Neuregelung kommt es, weil immer mehr Menschen Briefwahl machen.
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In größeren Städten mag man über die magische Zahl von 50 schmunzeln. Aber in unserer ländlich geprägten Region ist das Szenario gar nicht mal so unwahrscheinlich. Denn die Zahl der Briefwähler sprengt selbst die kühnsten Erwartungen von Fachleuten. Vor knapp zwei Wochen hatten in Brilon zum Beispiel 2500 Bürger Briefwahl beantragt. Inzwischen sind es über 7000. Damit haben schon jetzt mehr als ein Drittel (34,7 Prozent) in der Stadt des Waldes die Kreuzchen gemacht. In den anderen Kommunen sieht es ähnlich aus: In Medebach waren es vor zwei Wochen noch 900 Briefwahlanträge; inzwischen liegt die Zahl bei 2068. Das sind fast 34 Prozent.
Die ersten kleinen Orte sind betroffen
Nimmt man das Beispiel Medebach, so sind Küstelberg mit 164 und Titmaringhausen mit 151 Wahlberechtigten die kleinsten Stimmbezirke im Stadtgebiet. Legt man rein rechnerisch einmal in Titmaringhausen eine Wahlbeteiligung von rund 80 Prozent zugrunde, blieben 120 Wähler. Würden dort auch 34 Prozent Briefwahl mache, blieben immerhin noch 80 „Urnengänger“ übrig. Das würde reichen. Aber so weit ist die Zahl nicht von der 50 entfernt, die nötig bleibt, um nach Ansicht des Bundeswahlleiters überhaupt noch die Anonymität und das Briefwahlgeheimnis zu wahren. Der Kreiswahlleiter müsste dann am Wahlabend anordnen, in welchem benachbarten Stimmbezirk das Voting aus Titmaringhausen ausgezählt würde.
Zur Not werden die Stimmen im Nachbardorf ausgezählt
Stimmen werden Bleiben wir beim Beispiel: Der benachbarte Stimmbezirk könnte in diesem Fall Referinghausen sein. Dann müsste der Wahlvorstand in Referinghausen warten, bis die Stimmen aus dem Nachbardorf angeliefert wären - und erst dann dürften die Urnen aus beiden Dörfern geöffnet werden. Für das Ergebnis würden dann die Stimmen der beiden Orte zusammengelegt.
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In Brilon musste man dem Briefwahl-Trend und der neuen Wahlordnung schon Folge leisten. Die Stimmen aus Rixen werden erstmals mit denen aus Scharfenberg zusammengelegt. Esshoff wählt schon seit geraumer Zeit mit Altenbüren zusammen. Und Radlinghausen mit rund 125 Wahlberechtigten hat man zumindest im Visier. „Je kleiner die Orte, desto geringer ist aber auch erfahrungsgemäß die Briefwahl-Beteiligung“, weiß Marc Reermann vom Wahlamt der Stadt Brilon.
Politische Einordnung noch schwer möglich
Der rasante Anstieg bei der Briefwahl hat aber auch noch eine weitere Konsequenz. Er trägt nicht zur Transparenz bei. Früher konnte man sagen, „Dorf XY“ ist in roter Hand oder schwarz wie die Nacht. Jetzt, bei gut einem Drittel Briefwählern, ist das Resultat aus den einzelnen Stimmbezirken nur noch bedingt aussagekräftig. Denn die Ergebnisse der Briefwahl werden - anders als bei der Kommunalwahl - in eigenen Briefwahl-Stimmbezirken zusammengefasst – sie sind dann nicht mehr einem bestimmten Ort zuzuordnen.
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„Die Möglichkeit der Briefwahl gibt es schon so lange, wie ich mich mit dem Thema beschäftige“, sagt Annegret Hunold vom Wahlamt der Stadt Medebach. Und das ist seit 1975. Damals, so die Fachfrau, musste man noch Gründe angeben, warum man seine Stimme per Brief abgeben wollte. „Entweder waren die Leute zum Wahltag im Urlaub oder sie waren krank. Die Angabe von Gründen reichte aus, kontrolliert wurde das nicht. Heutzutage ist es per QR-Quode sehr einfach, sich die Unterlagen nach Hause schicken zu lassen. Corona hat den Trend zur Briefwahl sicherlich auch noch befeuert; hinzu kommt vielleicht auch eine gewisse Bequemlichkeit, einfach am Küchentisch in Ruhe seine Kreuzchen zu machen.
Nicht alle Briefwahlunterlagen kommen zurück
Erfahrungsgemäß kommen nicht alle Briefwahl-Unterlagen auch wieder zurück. „Ich schätze, dass bei uns 70 bis 80 auf der Strecke bleiben werden“, sagt Annegret Hunold. Das sind dann Briefwahlunterlagen, die gar nicht zurückgeschickt werden, oder wo der unterschriebene Wahlschein fehlt.
Gut, dass hier kein Meer dazwischen liegt
Das Bundesgebiet ist in 299 Wahlkreise eingeteilt. NRW hat 64. Auf der Hallig Hooge wurden bei den letzten Wahlen 51 bis 53 Stimmen abgegeben - es könnte also knapp werden. Würde die Zahl 50 dort verfehlt, ginge die verschlossene Urne mit dem Schiff zur Auszählung nach Pellworm auf Reise. Im schlimmsten Fall müsste sie mit der Fähre nach Nordstrand und von dort nach Pellworm gebracht werden.
Eine zweite Möglichkeit wäre ein Transport mit einem kleinen Schiff direkt nach Pellworm; das ist noch nicht geklärt.
Eigentlich ist das Ganze eine traurige Entwicklung: Denn wer will nicht wissen, wie die Nachbarschaft gewählt hat, wie die Dorfgemeinschaft politisch tickt? Ob die AfD stark unterstützt wird, die CDU, SPD, die Grünen oder wie die FDP und andere hier abgeschnitten haben? Schade, was war es doch früher spannend zu spekulieren, wer im Dorf denn wohl hinter den drei Stimmen für die Tierschutzpartei oder für die DKP gesteckt hat…