Brilon. „Bei Anruf Wort!“ Christiana Kretzschmar aus Brilon bietet in Zeiten von Kultur-Lockdown literarische Lichtblicke per Telefon. Und das geht so:

„Bei Anruf Mord!“ Viele kennen den Thriller von Alfred Hitchcock, bei dem ein Mann seine Frau aus dem Weg räumen möchte. Wie furchtbar! „Bei Anruf Wort!“ ist hingegen neu, überhaupt nicht brutal und eine sehr schöne Idee von Christiana Kretzschmar aus Brilon. Die lesesüchtige, vielseitig-talentierte Frau (Jahrgang 1955) leidet unsäglich unter dem Corona-Lockdown. Ihr fehlen menschliche Begegnungen, direkte Impulse und geistiger Austausch. Als Antwort auf den Mangel an jeglicher, unmittelbar mit allen Sinnen erlebbarer Kultur will sie eine spannende Aktion umsetzen. Menschen können bei ihr anrufen und sie findet im Dialog ein Gedicht oder einen Prosa-Text, den sie vorträgt, der dem Anrufer gefällt und der zu seiner aktuellen Situation passt. Und im günstigsten Fall kommen beide noch ins Gespräch über die unsägliche Macht des geschriebenen Wortes.

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Selbstversuch

Ein Selbstversuch: Wie beginne ich unser Telefonat? Vorab, wir sind beim „Du“ und ich habe Christiana Kretzschmar mitgeteilt, dass auch mir Konzert- und Theaterbesuche fehlen. Dass ich nach vielen Tagen Homeoffice das Bedürfnis habe, aus einer Ordnung auszubrechen und mich nach Licht sehne. Irgendwie muss die Literatur-Expertin ja auf meine Spur kommen. Daher werfe ich noch ein, dass ich so viele nordische Krimis gelesen habe, dass nahezu die ganze schwedische Bevölkerung in düsteren Wäldern verscharrt liegen müsse. Um die Verwirrung komplett zu machen, berichte ich noch von meiner Vorliebe für die Geschichten des englischen Tierarztes Alfred Wight, alias James Herriot. Ach ja, und den sizilianischen Meisterschreiber Andrea Camilleri mit seinen skurrilen Montalbano-Krimis führe ich auch noch ins Feld. Jetzt spüre ich, wie es in ihrem Kopf rattert.

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„Bei Anruf Wort!“ Poesie- und Bibliotherapeutin Christiana Kretzschmar.
„Bei Anruf Wort!“ Poesie- und Bibliotherapeutin Christiana Kretzschmar. © WP | wp

Idee aus Frankreich

„Ich habe im Deutschland-Radio-Kultur von so einer Idee in Frankreich gehört. Dort haben ein Theater und seine Schauspieler dieses Angebot gemacht. Ich brauche momentan einfach irgendetwas mit Kultur. Meine Schreibwerkstatt, meine Arbeit als Kultur- und Literaturvermittlerin – all das liegt brach“, sagt die Brilonerin. Die dreifache Mutter, engagierte Lokalpolitikerin, Trauerbegleiterin, Beerdigungsrednerin und Schiedsfrau ist außerdem ausgebildete bibliotherapeutische Beraterin. Das heißt, sie setzt Sprache bzw. Literatur als individuelle Türöffner ein, um Menschen Rat zu geben oder auch um sie selbst zum Schreiben zu bringen und ihre Kreativität zu wecken. Darum geht es bei „Bei Anruf Wort!“ allerdings nicht. Hier steht die Freude am Austausch, an Literatur im Mittelpunkt. „Das ist keine Therapie und keine Telefon-Seelsorge, das ist Lust an Kultur und vielleicht der Versuch, die Barriere vieler Menschen aus Schulzeiten zu überspringen, als es immer hieß: Was will uns der Dichter damit sagen?“

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Bei meinen blutrünstigen Vorlieben fällt ihr für mich das Buch „Aufzeichnung eines Serienmörders“ von Kim Young-ha ein. „Es ist ein ganz raffinierter Plot und es ist sogar lustig und rätselhaft.“ Aber ich merke, dass meine Gesprächspartnerin auf ein anderes Signalwort angesprungen ist: „Aus der Ordnung ausbrechen“. Und da hat sie etwas für mich. „Das Gedicht, was ich jetzt gerne vortragen möchte, hat noch nicht die richtige Temperatur für Dich, aber es passt in den Alltag und man kann es ganz schnell lernen.“ Im Nu switcht Christiana Kretzschmar um und fällt in einen anderen Sprachmodus. Erwin Grosche hat eigentlich für Kinder das Gedicht „Und Löffel für Löffel ins Löffelfach“ geschrieben und beim Vortrag merke ich über diesen Sprachwitz, wie sehr es mir auf den Nerv geht, die Spülmaschine auszupacken. Ja, vielleicht sollte ich einfach mal Ordnung Ordnung sein lassen und die Messer ins Gabelfach legen und Chaos in der Schublade anzetteln. Herrlich!

Kostenloses Kultur-Angebot

Das Angebot von Christiana Kretzschmar ist kostenlos. Am einfachsten ist es, über Mail mit ihr Kontakt aufzunehmen.

Unter Christiane.Kre@gmx.de kann der Interessent ein paar Tipps zu seinen literarischen Vorlieben geben und seine Rufnummer hinterlassen, damit ein Termin vereinbart werden kann. Unter02961 51222 ist Christiana Kretzschmar telefonisch erreichbar.

Lesen – das bedeutet für Christiana Kretzschmar: Eintauchen in eine andere Welt. Erfahrungen machen, die andere für sie schon gemacht haben. Es geht darum, Lösungen aus zweiter Hand zu erleben, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Es geht um die Faszination, das aus Buchstaben Bilder und ganze Welten entstehen. Und daran möchte sie andere teilhaben lassen. „Das Angebot ist ganz bewusst sehr niederschwellig und kostet nichts. Vom Ablauf her soll es so funktionieren: Die Interessierten senden mir eine Mail, in der sie kurz ihr Verständnis von Lesen und ihre literarischen Vorlieben schildern. Sie geben mir Ihre Telefonnummer, wir machen einen Termin aus und treffen uns per Telefon.“ Um schnell reagieren zu können und um mit den Menschen binnen kurzer Zeit ins Gespräch zu kommen, hat sie auf ihrem Schreibtisch, in den Regalen und im Hinterkopf eine Vorauswahl parat, aus der sie zur richtigen Situation den richtigen Text greifbar machen kann.

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Zu Gast im Hundereich

Ich muss schmunzeln und fühle mich ein wenig ertappt. Was wohl noch kommen mag? Die Brilonerin hat mich und meinen Hund schon oft auf der Straße gesehen. Daher kennt sie meine Affinität zu Tieren. Schnell sind wir beim Thema und Christiana Kretzschmar zaubert ein wunderschönes Gedicht von Rose Ausländer aus dem Ärmel, bei dem das Gespür für Tiere im Mittelpunkt steht: „Ich war einmal ein Hund; der himmlische Hundehüter warf mich in die Menschheit statt ins Hundereich…“ Das Gedicht ist klasse und trifft den Nagel auf den Kopf. Schon merkwürdig. So fühle ich mich wirklich manchmal. Wir reden über die Bedeutung von Tieren für Menschen und bei der Frage, ob der bessere Mensch zwei oder vier Beine hat, wird es philosophisch.

Jedes Telefongespräch ist für die Brilonerin ein Blind Date. Sie weiß nicht, wer am anderen Ende der Leitung ist und in welche Richtung das Gespräch führen wird. „Es geht um eine Begegnung unter echten Menschen auf literarischer Ebene“, sagt sie. Angst, dass jemand das Angebot missverstehen könnte, hat Christiane Kretzschmar nicht. „Wenn mir wirklich jemand blöde käme, würde ich ihm ein romantisches Liebesgedicht vortragen und dann war’s das…“

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Wie ein Wein

Wir kommen vom berühmten Hölzchen aufs Stöckchen. Aber das macht das Gespräch so angenehm und spannend. Eine halbe Stunde telefonieren wir jetzt schon. Wir stellen fest, dass man sich manche Urlaubsregionen sehr gut über Literatur erschließen kann. Und auch über Wein. Und damit bekomme ich noch einen Buch-Tipp mit auf den Weg: „In Erinnerung an einen vorzüglichen Wein“ von Javier Fernández de Castro. Es geht um einen gehörnten Winzer, einen Verleger technischer Fachliteratur, einen Ingenieur, viel Rotwein und noch mehr Kühe. Muss ich mir merken: In Erinnerung an ein angenehmes Literatur-Gespräch…