Referinghausen. Warum ein Architekt im Sauerland besondere Plätze schafft und warum diese Aktion große Beachtung in Berlin, München und Venedig findet.

Berlin/Referinghausen/Korbach. Es gibt Orte, die den Kopf frei pusten. Plätze, wo dem Geist Flügel wachsen. Orte, an denen wir runterfahren, Ruhe finden, uns öffnen, nachdenken und neben dem Alleinsein auch mit anderen ins Gespräch kommen können. Oft haben diese Orte eine natürliche Ausstrahlung, die man spüren kann. Manchmal ist das Gespür dafür aber auch verloren gegangen. Dann brauchen diese Orte im übertragenen Sinne ein Ausrufezeichen oder eine Marke, um sie zu be“merken“.

Architekt Christoph Hesse hat neun solcher „Open Mind Places“ in seinem Heimatdorf Referinghausen geschaffen bzw. markiert. Bis vor kurzem waren sie in Modellform in der Architektur Galerie in Berlin ausgestellt. Danach ziehen sie weiter u.a. nach München, Karlsruhe und in einen Palazzo nach Venedig. In natura bleiben sie natürlich in Referinghausen präsent.

Himmelstropfen und Sonnenklang

Schon seit Jahren schwelten die Gedanken in seinem Hinterkopf. Mehr und mehr nahmen sie Gestalt an: Wohin bringt und das „Schneller, höher, weiter“? Was macht die Digitalisierung des Lebens mit uns? Mit unserem Verhältnis zur Natur, deren Bestandteil wir doch eigentlich selbst auch sind? Passgenaue Antworten auf diese Fragen gibt es nicht, aber Orte, an denen man sich mit ihnen beschäftigen kann, wo die Auseinandersetzung mit ihnen greifbar und erlebbar wird. Und diese Orte haben Namen. Sie heißen „Himmelstropfen“, „Sonnenklang“, „Heidentempel“ oder „Ober-und Unterholz“.

Inmitten der Natur rund um Referinghausen hat der 43-jährige, der aus Referinghausen stammt, in Oberschledorn wohnt und in Korbach und Berlin Architekturbüros betreibt, sogenannte Follies (naturnahe Bauten) als Plätze der offenen Gedanken errichtet. „Diese Plätze sollen dazu einladen, über die Bestimmung des eigenen Lebens nachzudenken. Man braucht solche Orte, wo man Dinge aus einer anderen Perspektive betrachten kann. Wo man – in Zeiten des ökologischen Umbruchs – einen geschärfteren Blick auf unsere Natur-/-Kulturlandschaft einnehmen kann. Es geht darum, sich diesen Wandel bewusst zu machen. Denn nur, was man versteht, kann man auch ändern“, sagt Hesse. Er teilt die Orte in die drei Kategorien ein: Innehalten, Nachdenken und Gedanken austauschen. Ständig sichtbar bleiben nicht alle Follies. Einige – wie die Strohtherme, die zur 750-Jahr-Feier als äußeres Zeichen der energetischen Neuausrichtung des Dorfes aufgebaut war oder die Installation eines brennenden Holzstapels als Symbol für das Waldsterben – waren nur temporärer Natur.

Licht und Gedanken durchlassen

Die anderen Marken sind hingegen langlebig. Sie bestehen aus einfachen Konstruktionen und lokal verfügbaren Materialien, die Hesse mit Hilfe seiner Familie, Dorfbewohnern und befreundeten Handwerker errichtet hat. Die „Himmelstropfen“ zum Beispiel sind drei luftige, aus Baustahlmatten geformte Metallröhren. Sie stehen auf einer Hügelkuppe inmitten einer Wiese und werden von Kletterpflanzen umrankt. In der Mitte lädt jeweils ein Liegestuhl ein. Einfach so. Um Löcher in den Himmel zu gucken. Da ist außerdem der „Sonnenklang“. Eine von einem spitzen Metalldach behütete Holzliege, auf der sich die Umgebungsgeräusche unter dem Kupferfirmament verdichten. Und da ist die begehbare Skulptur „Pflug“ aus von Tag zu Tag mehr und mehr vor sich hin rostendem Metall. Sie ist versteht sich als unverklärte Hommage an das nicht immer einfache Landleben. In der Dorfmitte, die zurzeit neu als Mehrgenerationenplatz gestaltet wird, finden sich die Baukörper „Unterholz“ und „Oberholz“. Kubistische Baukörper aus Betonsockel und gestapelten Eichenbalken, die nicht nur das Lichtspiel, sondern auch Gedanken durchlassen.

Aufgabe zeitgenössischer Architektur

In einem Vorwort zu dem Buch, das zur Ausstellung erschienen ist, schreibt Ulrich Müller, Gründer der Architektur Galerie Berlin: „ Für uns ist die Ausstellung der ,Open Mind Places' eine wichtige Facette im Diskurs über die Rolle und Aufgaben zeitgenössischer Architektur. Denn jenseits der durch global agierenden Architekturfirmen geprägten, primär marktorientierten Tendenzen sind Initiativen und Projekte wie die von Christoph Hesse enorm wichtig. Sie zeigen, dass es nicht nur alternative Ideen und Lebensmodelle gibt, sondern dass sich das Engagement dafür auch lohnt. Umso mehr, wenn sie eine Architektur generieren, die das Verhältnis zwischen Kunst und Natur perfekt ausbalanciert.“

Zeichen der Dorfentwicklung

Auch Ortsvorsteher Reinhard Figgen kommt in dem Buch zu Wort: „Ein Dorf muss sich entwickeln (…) Dabei kann es hilfreich sein, wenn unorthodoxe Ideen wie diese neue Impulse schaffen. Der Wunsch nach Stille, nach Entschleunigung und Zu-sich-Kommen gewinnt in der postmodernen Gesellschaft immer mehr an Bedeutung – und wird durch Corona noch verstärkt. Gleichzeitig wächst das Interesse an spiritueller Erfahrung innerhalb und außerhalb von religiösen Gemeinschaften. Es ist Ausdruck einer neuen Suche nach Orientierung und Lebenssinn.“ Für ihn sind die Open Mind Places auch ein sichtbares Zeichen für eine auf die Zukunft ausgerichtete Dorfentwicklung.

Anknüpfungspunkt "Seelenorte"

In gewisser Weise knüpfen die Plätze der offenen Gedanken an die 43 Seelenorte im gesamten Sauerland an. Sie sind Bestandteil des Projekts „Wege zum Leben in der Digitalen Transformation“, das im Rahmen der “Regionale 2025“ in Südwestfalen in umgenutzten Gebäuden und in experimenteller, temporärer Architektur in der Natur inspirierende Räume für neues Lernen, Arbeiten und Leben entwickeln will. Für Christoph Hesse geht es „um Achtsamkeit gegenüber der Natur und um Offenheit und Respekt gegenüber Mitmenschen“. Dass er als „Einheimischer“ mit seinen Ideen im Dorf nicht aneckte, sondern mit einem großen Vertrauensvorschuss auf große Akzeptanz stieß, freut ihn am meisten. Bislang habe er viele positive Reaktionen auf die Installationen bekommen.