Arnsberg/Hamm/Winterberg. Das OLG hat einer HSK-Jugendamtsmitarbeiterin eine Mitschuld am Tod eines Kindes gegeben. Ihr Verteidiger erwägt den Gang zum Verfassungsgericht.
Das Oberlandesgericht in Hamm hat den Revisionsantrag im Fall einer Jugendamtsmitarbeiterin des HSK zurückgewiesen. Hamm bekräftigt damit die Auffassung des Landgerichts Arnsberg. Demnach trifft die Frau eine Mitschuld am Tod eines Kleinkindes (wir berichteten). Das OLG hatte erklärt: „Ein Jugendamtsmitarbeiter ist nicht erst dann zum Handeln verpflichtet, wenn er von einer konkret eingetretenen akuten Gefährdung des Kindeswohls tatsächlich Kenntnis nimmt. Vielmehr hat er auch für eine pflichtwidrig herbeigeführte Unkenntnis von einer solchen Gefährdung einzustehen.“
Anwalt sieht Verfahrensfehler
Der Verteidiger der Jugendamtsmitarbeiterin, Thomas Mörsberger aus Lüneburg, ist enttäuscht über den Ausgang des Verfahrens. „Wir sehen nach wie vor gravierende Verfahrensfehler im Arnsberger Prozess, insbesondere aber Fehleinschätzungen zu grundlegenden Rechts- und Fachfragen. Ob diese Fehler auch ausreichen, mit Aussicht auf Erfolg das Bundesverfassungsgericht anzurufen, prüfen wir zurzeit.“ Andernfalls müsse man zwar nun von der Unanfechtbarkeit der OLG-Entscheidung ausgehen. Es sei aber unabdingbar, auf breiter - auch politischer - Ebene, die praktische Konsequenzen für die Jugendämter in Deutschland zu diskutieren.
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Zwar sei die Entscheidung und auch die Begründung erfreulich weit weg vom ersten Urteil des Amtsgerichts Medebach, so Mörsberger weiter. Das OLG teile zudem die Auffassung des Landgerichts, was die Frage der Garantenstellung anbelangt und rücke damit von der bisher von einigen Gerichten und Rechtswissenschaftlern vertretenen, extrem weiten Auslegung ab. Mörsberger: „Aber dann beschreibt es die Pflichtenstellung von Jugendamtsmitarbeitern in einer Weise, die bei allem Respekt vor der zuständigen Kammer doch sehr an Funktionen angelehnt ist, die wenig oder nichts mit dem zu tun haben, was die Kernaufgabe der Jugendämter ist.“ Damit habe das OLG Hamm - so Mörsberger weiter - „einem wirksamen Kinderschutz einen Bärendienst erwiesen. Sicher nicht, um es juristisch zu formulieren, vorsätzlich, aber fahrlässig.“
Schlüsselfrage nicht geklärt
Für Mörsberger ist die alles entscheidende Frage nicht geklärt: „Man kann doch der Mandantin keinen Vorwurf machen und von ihr erwarten, dass sie bei dem Hausbesuch bezüglich des älteren Kindes auch das kleine Kind hätte anschauen müssen. Bei den Schulproblemen des Älteren frage ich doch nicht nach, ob der Säugling gut versorgt ist. Hier herrscht ein völlig falsches Verständnis davon, was ein Allgemeiner Sozialer Dienst überhaupt macht.“ Das habe er in seiner Revisions-Begründung immer wieder versucht zu verdeutlichen. Nun stelle er aber fest, dass „Richter in ihren strafrechtlich dogmatischen Positionen festsitzen“. Immer wieder gehe die öffentliche Diskussion und auch die Rechtsprechung davon aus: Wenn eine Jugendamtsmitarbeiterin in eine Familie komme und Anzeichen für eine Überforderung vorlägen, müsse automatisch die Kontrollfunktion greifen. „Das ist eine Grundsatzfrage. Wenn man jeden Kontakt zu Familien so ansetzt, provoziert man nur eine Abwehrhaltung.“
Verteidiger kennt die Praxis
Der Lüneburger Rechtsanwalt Thomas Mörsberger, der gemeinsam mit seiner Kollegin Astrid Aengenheister aus Bonn die Verteidigung der Jugendamtsmitarbeiterin übernommen hatte, war vor seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt viele Jahre in der Praxis der Jugendhilfe tätig, u.a. zwölf Jahre als Leiter eines Landesjugendamts. Er gilt als einer der führenden Kommentatoren des für die Jugendämter maßgeblichen Gesetzeswerks, des SGB VIII.
Mörsberger war über 20 Jahre lang Vorsitzender des renommierten Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF): „Ich habe das Mandat in diesem Fall nicht nur übernommen, weil ich die Art, wie die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht Medebach sehr vorurteilsbeladen gegen die sehr engagiert und korrekt agierende Sozialarbeiterin vorgegangen war, empörend fand. Vielmehr beobachte ich seit Jahrzehnten, wie problematisch sich diese bei Teilen der Justiz verbreitete Grundhaltung auf die Versuche der Kinder- und Jugendhilfe auswirkt, gefährdeten Kindern wirksam zu helfen.“
Der Verteidiger kommt zu dem Schluss: Im Ergebnis bedeuten die Aussagen des OLG eine Katastrophe für die ohnehin schwierige Aufgabe der Jugendämter in Deutschland. Mörsberger: „Ich bin daran interessiert – nachdem ich mich 25 Jahre um dieses Thema gekümmert habe und bei der Strafjustiz immer wieder gegen Mauern stoße – das Kapitel nicht ruhen zu lassen. Natürlich gibt es immer wieder auch berechtigte Anlässe, die Arbeit von Jugendämtern zu kritisieren.“ Genau dafür ist Mörsberger übrigens in der Szene bekannt, bei manch einem sogar verschrien wegen „Nestbeschmutzung“.
Beschluss später zugestellt
Aber die Entscheidung des OLG Hamm trägt seiner Meinung nach nicht zu kritischer Reflexion bei, sondern fördere die „ohnehin zunehmende Tendenz zu mehr ,Formularisierung’ und Absicherungsmentalität. Aber damit helfen wir Kindern nicht.“
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Der Hochsauerlandkreis, bei dem die Mitarbeiterin beschäftigt ist, erklärte in einer von unserer Zeitung angeforderten Stellungnahme: „Das Jugendamt des Hochsauerlandkreises bedauert die Verwerfung der Revision. Die Begründung des Strafsenats wird derzeit geprüft. Die juristische Beurteilung wird nicht nur für das Kreisjugendamt, sondern bundesweit Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) und der Jugendhilfe insgesamt haben.“
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Kreisjugendamtsleiter Bernd Wagner führt zu möglichen Veränderungen durch die Verwerfung der Revision aus: „Wenngleich die Standards in der täglichen Arbeit zwar Struktur und Orientierung bieten, lösen sie nicht das Spannungsfeld zwischen dem jugendhilferechtlichen Hilfeansatz und der durch die Garantenpflicht ausgelösten Kontroll- und Eingriffsfunktion der Jugendhilfe. Das Kreisjugendamt betont an dieser Stelle, dass die Fachkräfte des Jugendamtes in diesem Spannungsfeld mit hohem Engagement und größter Sorgfalt ihren nicht einfachen Auftrag erfüllen. Auch bei engmaschigster Kontrolle durch die Behörden werden sich derartige Fälle künftig leider nicht immer vermeiden lassen.“
Der schriftliche Bescheid per Post über den OLG-Beschluss erreichte die betroffene Sozialarbeiterin nach Angaben ihres Anwalts übrigens erst, nachdem das Gericht das Urteil bereits öffentlich gemacht hatte.