Hochsauerland. Sozialarbeiter vor Gericht: Fast alle kapitulieren und nehmen ein Urteil an, weil der Druck groß ist. Eine Juristin hat das untersucht.
Das Oberlandesgericht in Hamm wird in den nächsten Wochen über die Revision im Fall einer HSK-Jugendamtsmitarbeiterin entscheiden. Bundesweit sorgen solche Verfahren immer wieder für Schlagzeilen und emotionale Debatten, weil es um das Wohl von Kindern geht. Die Juristin Dr. Linn Katharina Döring kennt diesen speziellen Fall, bei dem ein Kleinkind einer damals neunfachen Mutter im Raum Winterberg verhungert war, nur aus der Presse. Sie hat aber elf solcher Fälle in ihrer Dissertation „Sozialarbeiter vor Gericht?“ untersucht.
Wenn sich Sozialarbeiter vor Gericht verantworten müssen, wird ihnen meistens vorgeworfen, etwas nicht getan zu haben. Seit wann ist eine Unterlassung in dem Zusammenhang strafbar?
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Linn Katharina Döring: Im deutschen Recht ist eine Person wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung durch Unterlassen nur strafbar, wenn sie eine Garantenstellung aufweist. Ob auch Sozialarbeiter im Rahmen ihres beruflichen Schutzauftrags gegenüber Kindern eine solche Garantenstellung haben, ist in der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung vor den 1990er Jahren nicht diskutiert worden. Erst mit zwei tödlich verlaufenen Kinderschutzfällen 1994 und 1996, die zu Strafprozessen gegen Sozialarbeiter geführt haben, ist diese Rechtsfrage aufgekommen.
Preisgekrönte Arbeit
Linn Katharina Döring (31) ist Volljuristin, lebt in Wiesbaden, stammt aus Bonn und hat in Freiburg studiert. Ihre Doktorarbeit zum Thema „Sozialarbeiter vor Gericht?“ wurde mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft ausgezeichnet. Die Arbeit erschien in der Schriftenreihe „Kriminologische Forschungsberichte“ des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.
Sie hat sich zu einer intensiven Diskussion und relativ schnell zu einer vorherrschenden Meinung zugunsten der Garantenstellung und somit möglichen Strafbarkeit von Sozialarbeitern in Jugendamtsfällen entwickelt. Die Strafbarkeit der Sozialarbeiter im Zusammenhang mit Kinderschutzverläufen wurde maßgeblich durch die Rechtsprechung geprägt und ist auf relativ wenig Widerstand gestoßen.
Das heißt, es gibt keine wirklich klare Linie?
Da sich die meisten verurteilten Sozialarbeiter gescheut haben, Rechtsmittel einzulegen, um sich und ihre Angehörigen einen belastenden öffentlichen Prozess zu ersparen, gibt es kaum obergerichtliche, geschweige denn höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem Thema. Trotzdem kommt es seit den 1990er-Jahren immer wieder zu Strafverfahren von Jugendamtsmitarbeitern. Denn Strafverfolgungsbehörden sind aufgrund des Legalitätsprinzips zu Ermittlungen verpflichtet, sofern Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen - und dies nach der mittlerweile vorherrschenden Rechtsmeinung bei Jugendämtern der Fall sein kann. Staatsanwälten drohen mitunter selbst Dienstaufsichtsbeschwerden oder Anzeigen wegen Strafvereitelung durch Unterlassen, wenn sie nicht gegen Sozialarbeiter ermitteln.
Wie sind die elf Verfahren in Sachen tödliche Kinderschutzfälle ausgegangen, die Sie im Rahmen Ihrer Doktorarbeit im Zeitraum 1995 – 2015 untersucht haben?
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Zumeist wurden solche Verfahren mit Geldbußen eingestellt oder mit Strafbefehlen und Geldstrafen geahndet. Die von mir untersuchten Fälle sind zumindest in der nächsten Instanz fast immer zugunsten der Sozialarbeiter ausgegangen. Nur zwei sind rechtskräftig nach einer Hauptverhandlung verurteilt worden. Die Einlegung von Rechtsmitteln lohnt sich also meistens für die Betroffenen, ist allerdings mit hohen persönlichen Kosten verbunden. Dass ein Sozialarbeiter einen Strafbefehl akzeptiert, um „Ruhe vor der Öffentlichkeit“ und vor etwaigen Anwalts- und Prozesskosten zu haben, ist verständlich. Die Vorwürfe nicht auszufechten, bedeutet aber auch für den betroffenen Sozialarbeiter und die Profession, eine mögliche Rehabilitierungs- und Aufklärungsplattform auszuschlagen.
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Haben Sie in Ihren untersuchten Fällen eine Tendenz festgestellt, dass über eine Verurteilung versucht wurde, eine politische Diskussion über Gesetzgebung anzustoßen oder zu erwirken?
Aus den veröffentlichten Urteilen, dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum und der Berichterstattung dieser Prozesse sind entsprechende Aussagen bekannt, in denen die Strafprozesse als Mittel der Qualitätssicherung der Kinder- und Jugendhilfe begrüßt wurden. Ich hatte nach einer Analyse der vorhandenen Dokumente zu den Verfahren den Eindruck, dass insbesondere zu Beginn der Diskussion in den 1990er und 2000er Jahren die Strafverfolgungsbehörden, Gerichte und Rechtswissenschaftler geglaubt haben, durch ihr Agieren müsste und könnte der Kinderschutz in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Bei allem guten Willen, Kinder besser schützen zu wollen, handelt sich dabei meines Erachtens aber um eine rechtsstaatlich problematische Funktionsverschiebung. So ist es nicht Aufgabe der Justiz, durch die Ahndung überdies nicht unbedingt repräsentativer Einzelfälle den Jugendämtern und dem Kinderschutz neue Vorgaben zu machen.
In Ihrer Dissertation haben Sie Vergleiche zu England hergestellt. Inwiefern läuft Jugendarbeit dort anders als bei uns?
Die Engländer beschäftigt das Kinderschutzthema schon deutlich länger und intensiver als uns in Deutschland. Eine erste parlamentarische Untersuchung eines Kinderschutzfalles fand schon 1945 statt. England hat fehlgeschlagene Kinderschutzfälle seitdem extrem intensiv aufgearbeitet und sehr viel Forschung dazu betrieben. Anders als in Deutschland werden Sozialarbeiter dort nicht strafrechtlich belangt, müssen aber arbeitsrechtliche Konsequenzen – meist den Verlust der Arbeitsstelle – fürchten. Zudem sind die öffentlichen Schuldzuschreibungen gegenüber Sozialarbeitern in England deutlich forscher als in Deutschland. Sprachrohr dieser Anschuldigungen ist primär die berüchtigte englische Boulevard-Presse. So wurde die Leiterin eines Jugendamtes in England jahrelang vor ihrem Haus von Journalisten belagert. Sie und ihre Familie wurden ernsthaft bedroht. Eine andere Sozialarbeiterin musste untertauchen. Viele der mit Namen und Bild in der englischen Presse genannten Sozialarbeiter haben jahrelang und zum Teil bis heute aufgrund ihrer Verwicklung in die Fälle keine Arbeitsstelle mehr gefunden. Solche Zustände haben wir in Deutschland zum Glück nicht.
Haben Strafverfahren zu einer Qualitätssicherung geführt?
Das ist in der Gesamtheit schwer zu sagen. Sichtbar ist die Tendenz, insgesamt und speziell nach öffentlichkeitswirksamen Kinderschutzfällen, Kinder häufiger in Obhut zu nehmen. Das hat zumindest auch, wenn auch nicht nur, mit der gestiegenen Absicherungsmentalität der Fachkräfte zu tun. Ob gestiegene Inobhutnahmen ein Zeichen von Qualität der Kinder- und Jugendhilfe sind, ist fraglich. Es werden dadurch vermutlich viele Kinder aus ihren Familien genommen, bei denen es nicht nur nicht notwendig, sondern schädlich für das Kindeswohl ist. Ohne die Strafverfahren wäre es allerdings zumindest nicht derart schnell zu Verfahrensstandards bei Kindeswohlgefährdungen gekommen. Die durch die Strafverfahren erzeugte Öffentlichkeitswirkung hat tatsächlich vielfach Professionalisierungsbemühungen in den Jugendämtern und in der Kooperation mit anderen Beteiligten sowie die Bereitstellung von mehr Ressourcen für die Kinder- und Jugendhilfe ausgelöst. Zu beachten ist, dass Strafverfahren gegen Sozialarbeiter auch dazu führen können, dass die Aufarbeitung von Missständen von den Beteiligten behindert wird. So haben einige Sozialarbeiter von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, um sich selbst vor Strafverfolgung oder Anfeindungen zu schützen. Es ist auch schon in einigen wenigen Fällen zu Verfälschungen von Jugendamtsakten gekommen. Dieses defensive Verhalten behindert die Aufarbeitung der Fälle und damit auch ein Lernen aus etwaigen Fehlern.
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Was wäre Ihrer Meinung nach sinnvoll?
Sinnvoll sind von Kinderschutzexperten geleitete faire und gründliche Aufarbeitungsverfahren und bessere interne Kontrollmechanismen bzw. ein etabliertes Fehlermanagement in derartigen Fällen. Der Vorteil von Strafverfahren gegen Jugendamtsmitarbeiter ist zumindest, dass Verteidigungsrechte, Rechtsmittel und die öffentliche Diskussionsplattform den Betroffenen Schutz sowie Chancen der Rehabilitierung bieten. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn Sozialarbeiter die Kraft aufbringen, einen Strafbefehl oder eine erstinstanzliche Verurteilung nicht zu akzeptieren und bereit sind, sich der Hauptverhandlung persönlich zu stellen.