Brilon. Einsamkeit, Angst, Traurigkeit. Angehörige erzählen, wie Menschen in Seniorenheimen unter Corona-Beschränkungen leiden. Das sind ihre Geschichten
Geschäfte, Spielplätze, Freizeitparks, Schwimmbäder und Restaurants sind wieder geöffnet, reisen ist zumindest in der EU wieder möglich. Kitas und Schulen gehen nach und nach an den Start. Doch in einem Bereich herrscht seit der Lockerung zum Muttertag kompletter Stillstand: Besuche in Seniorenwohnheimen sind nur unter sehr strengen Bedingungen möglich. Viele Angehörige empfinden die Situation als unheimlich belastend und machen auf die Folgen dieser Isolation aufmerksam.
Auf Situation aufmerksam machen
Karin Schreckenberg aus Brilon hat auf facebook einen Aufruf gestartet. Sie schreibt: „Ich finde es unerträglich, dass es trotz der hiesigen Infektionszahlen nicht möglich ist, unter Einhaltung der Hygienevorgaben, die Bewohner normal zu besuchen, sondern nur mit zwei Meter Abstand, Spuckschutz und Maske.
Auch interessant
Für schwerhörige und demente Personen mehr als eine Zumutung. Gerade für demente Personen ist der Kontakt mit den Angehörigen lebensnotwendig.“ Sie möchte auf die Situation aufmerksam machen und Erleichterungen einfordern.
Auf ihren Aufruf hin hat Karin Schreckenberg rund 20 Rückmeldungen von Menschen bekommen, die die Lage ganz ähnlich wie sie bewerten und ihr berichtet haben, wie sehr sie als Angehörige, aber vor allem die Betroffenen selbst unter der zunehmenden Isolation leiden. „Manche haben mir unter Tränen erzählt, wie schrecklich sie die Situation empfinden“, berichtet Karin Schreckenberg. Die 53-Jährige ist Inhaberin des Reisebüros Via Soluna in Brilon und kümmert sich um ihre 88-jährige Tante, die seit September im St.-Engelbertwohnheim lebt.
Mit Abstand, Mundschutz und Plexiglasscheibe
Karin Schreckenberg geht es ausdrücklich nicht um die Situation in dieser Einrichtung, sondern um die allgemein gültigen Regelungen und die Folgen für viele alte Menschen. „Ich merke, dass meiner Tante die jetzige Situation sehr zu schaffen macht. Sie würde gerne mal wieder mit mir spazieren gehen und ihren alten Garten sehen. Selbst kleine Hilfestellungen oder ein Händedruck sind nicht möglich, da wir uns nur mit Abstand und Mundschutz hinter einer Plexiglasscheibe in der Cafeteria sehen können.
Auch interessant
Dass Schutzmaßnahmen nötig sind, ist Karin Schreckenberg dabei durchaus klar. „Doch so langsam müssen auch für alte Menschen Erleichterungen kommen. Irgendwann muss man den Mut haben, diesen Schritt zu tun und neue Konzepte erarbeiten“, so die Brilonerin. Man könnte zum Beispiel überlegen, ob nicht zumindest jeweils eine feste Kontaktperson erlaubt werde und z.B. Besuche auf dem Zimmer und Spaziergänge mit Mundschutz wieder möglich sein könnten. Falls sich in absehbarer Zeit nichts tut, kann sie sich vorstellen, zum Beispiel eine Petition zu starten. Sie kritisiert: „Viele alte Menschen fühlen sich allein gelassen und traurig. Das geht so nicht“.
Viele Angehörige wenden sich mit Fragen an den HSK
Ansprechpartner für alle Fragen rund um das Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) ist die Heimaufsicht des HSK. Regine Clement ist Ansprechpartnerin für Einrichtungen und Angehörige. Sie berichtet, dass sich angesichts der Corona-Krise viele Angehörige an den HSK gewandt haben. Dabei habe sich gezeigt, dass die Situation teilweise als sehr belastend empfunden werde.
on Seiten der Einrichtungen habe es aber auch Rückmeldungen gegeben, dass gerade manche Demenzkranken die Einschränkungen als nicht so schlimm wahrgenommen hätten. Oft seien sie nach Besuchen sehr aufgewühlt und unruhig. Den Einrichtungen müsse aus Sicht der Heimaufsicht ein großes Lob ausgesprochen werden, denn es seien überall mit vielen Ideen und Engagement Konzepte erarbeitet worden, um möglichst allen gerecht zu werden.
„Die Umsetzung hat sich keine Einrichtung leicht gemacht“, so Regine Clement. Ihr ist es auch wichtig, deutlich zu machen, dass die Krise noch nicht vorbei ist. „Wir müssen uns vor Augen führen, dass es hier um alte, teilweise auch kranke Menschen geht. Wir müssen die Bewohner, aber auch die Mitarbeiter der Einrichtungen schützen. Wir wollen auf jeden Fall verhindern, dass es nochmal in Einrichtungen dramatische Verläufe gibt“, erklärt Regine Clement. Zwei Einrichtungen im HSK (in Neuastenberg und Meschede) waren von Corona-Fällen massiv betroffen. Es gab mehrere Todesfälle. Das Land NRW hat eine Dialog-Stelle für Pflegebedürftige, Menschen mit Behinderungen und Angehörige eingerichtet. Sie ist erreichbar unter: E-Mail: dialogstelle@lbbp.nrw.de oder 0211 / 855 4780. Infos: www.lbbp.nrw.de
Angst, Unsicherheit und Einsamkeit
Uwe Diedenhoven aus Brilon ist einer derjenigen, die mit Karin Schreckenberg Kontakt aufgenommen haben, denn auch er empfindet die derzeitige Situation als unerträglich. Er erzählt, dass seine Mutter im Engelbertheim in Brilon lebt. Im März musste sie ins Krankenhaus, weil sie eine neue Herzklappe brauchte. Dort bekam sie einen Schlaganfall. Und so erging es ihr, wie vielen alten und kranken Menschen: Sie mussten Krankheit, Angst und Unsicherheit ganz allein ertragen, weil Besuche nicht möglich waren. „Ich konnte meine Mutter zweieinhalb Monate überhaupt nicht besuchen. Am Muttertag habe ich sie zum ersten Mal wieder gesehen – mit Plexiglas zwischen uns und mit Mundschutz. Das war sehr befremdlich und für uns beide richtig schlimm.“
Auch interessant
Während des Krankenhaus-Aufenthaltes war selbst telefonieren nicht möglich, weil die 85-Jährige ihren Arm nicht bewegen konnte. Inzwischen seien zumindest Telefonate wieder möglich, berichtet der Briloner. Doch er merke, wie seine Mutter unter der langen Isolation leide: „Da ist ganz viel Traurigkeit, ganz viel Angst, dass wir uns gar nicht mehr unter normalen Umständen sehen können. Das entzieht den Betroffenen jede Kraft und Lebensfreude.“ Deshalb hofft Uwe Diedenhoven wie Karin Schreckenberg, dass es bald auch für die Seniorenheime Lockerungen gibt. Seine Kritik: „In diesem Bereich ist Stillstand. Überall gibt es Lockerungen. Nur für die alten Menschen gibt es keine Perspektive.“ Er ist sicher: „Dass viele Senioren ihre Angehörigen nicht sehen können, ist für viele schlimmer, als wenn sie an Corona sterben würden.“
Unterhaltung fast nicht möglich
Auch Silvia Rotthoff empfindet die Besuchssituation so wie sie jetzt ist als unerträglich. Früher hat sie ihren Vater drei Mal pro Woche im Christophorus-Wohn- und Pflegezentrum in Gudenhagen besucht: „Wir sind viel spazieren gegangen, haben uns unterhalten und ich habe mich darum gekümmert, dass bei ihm alles gut läuft“, erzählt die Brilonerin. Dann kam Corona und wochenlang war der Kontakt – nur telefonisch oder über den Balkon möglich. Seit dem Muttertag sind persönliche Besuche zwar erlaubt, aber für beide Seiten nicht schön: „Mit großem Abstand und Mundschutz – mein Vater hat mich kaum erkannt und auch eine Unterhaltung war fast nicht möglich.“
Auch interessant
Silvia Rotthoff hat den Eindruck, dass ihr Vater in den letzten Wochen „sehr abgebaut hat und im Haus herum läuft, weil er mich sucht. Das tut mir richtig weh – zumal man ja nicht weiß, wie lange man seine Angehörigen noch hat“, berichtet die 53-Jährige. Sie sieht ein, dass bestimmte Hygienestandards eingehalten werden müssen, appelliert aber auch an alle Entscheidungsträger, zu überdenken, ob es nicht – wie in vielen anderen Bereichen - weitere Lockerungen geben sollte, zum Beispiel Treffen auf dem Wohnheimgelände und Spaziergänge im Freien – mit Mundschutz und Eintragung in eine Liste. Über die derzeitige Situation ist sie empört: „Ich finde es unmöglich, dass Senioren so isoliert und abgeschottet werden.“
Wer Kontakt zu Karin Schreckenberg aufnehmen möchte, kann ihr eine Mail schreiben: info@karin-schreckenberg.de