Arnsberg/Winterberg. . Das Verfahren gegen die Mutter eines verhungerten Kindes aus Winterberg wird zu einer Zerreißprobe. Nun geht es um Befangenheit der Kammer.

Der Gerichtsprozess um ein verhungertes Kleinkind aus dem Raum Winterberg nimmt kein Ende. Und juristische Laien können langsam nicht mehr verstehen, warum sich das Verfahren derart in die Länge zieht. Vier Verhandlungstage waren vorgesehen, als der Prozess gegen die inzwischen 41-jährige Frau im September 2017 vor dem Schwurgericht Arnsberg gestartet war.

Mittlerweile steht der 20. Verhandlungstag an. Ob es überhaupt weitergeht? Eine Vertretungskammer will bis Mittwoch beraten haben, ob die derzeit tätige Schwurgerichtskammer befangen ist oder nicht. Einen ähnlichen Antrag hat sie schon einmal abgelehnt.

Prozess um verhungertes Kind: Plädoyers bereits im Januar

Ende Januar hatten Staatsanwalt Klaus Neulken und der damalige Nebenklägervertreter Oliver Brock bereits Plädoyers gehalten. Sie hatten ein Strafmaß von drei Jahren und acht Monaten bzw. von vier Jahren gefordert. Pflichtverteidiger Stephan Lucas kam bislang noch gar nicht zum Schlussvortrag; er hat weitere Anträge gestellt und sagt: „Ich kämpfe so lange, bis alle juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Nicht zuletzt auch, weil das ein Fall ist, der mich persönlich tief berührt.“

Selbst wenn im Prozessablauf der Tod des Kindes für manchen Beobachter scheinbar in den Hintergrund gerate, nehme er sich oft die Akte, sehe den kleinen Jungen und mache sich bewusst, was hier passiert sei. „Der Kleine hat ganz gewiss nichts falsch gemacht.“ Aber es müsse jetzt darum gehen, mögliche Versäumnisse der Mutter strafrechtlich angemessen zu bewerten.

Strafprozessfachmann Prof. Wolters zum Prozessverlauf

„Dass ein Strafverfahren sich über so viele Verhandlungstage erstreckt ist nicht ungewöhnlich und durchaus rechtens. Es gibt Wirtschaftsstrafverfahren, die dauern einhundert und zweihundert Tage“, sagt Prof. Dr. Gereon Wolters, den die WP um eine Einschätzung gebeten hat. Wolters hat einen Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Ruhr-Universität Bochum inne. „Im Prinzip kann ein Verteidiger kunstfehlerfrei so lange Beweis- und auch Befangenheitsanträge stellen, wie sie eine Substanz enthalten. Ein guter und gezielter Antrag kann allerdings manchmal mehr Erfolg haben als Schüsse mit der Schrotflinte.“ Eine Häufung von Anträgen erhöht seiner Meinung nach nicht unbedingt die Erfolgsaussichten in einer Revision. „Würde ein Richter dort 50 Befangenheitsanträge finden, läge wohl eher der Verdacht des Querulatorischen nahe.“

Fälle von Körperverletzung seien in der Regel einfacher zu handhaben als komplexe Sachverhalte in schwierigem rechtlichen Umfeld, so der Professor. „Zumeist gibt es hier jemanden, der einem anderen nachweislich Schaden zugefügt hat. Beim Mord ist das in der gerichtlichen Praxis häufig ähnlich. Es gibt einen Angeklagten, der oft geständig ist, oder die Beweislage ist eindeutig. Hier geht es vor allem um die familiären Hintergründe und um die Frage schuldmindernder oder -steigernder Umstände.“

Dass das Gericht die Beweisaufnahme geschlossen habe, bedeute nicht, dass der Anwalt nicht doch noch weitere Anträge stellen könne. „Wenn sich dadurch etwas gravierend Neues ergibt, kann man auch wieder in die Hauptverhandlung eintreten. Ansonsten können die Anträge auch erst im Urteil beschieden werden.“

Verteidiger kämpft für Bewährungsstrafe

Und da befürchtet die Angeklagte inzwischen, dass das Gericht ihr keinen fairen Prozess machen könnte. Der Umstand, dass die 41-Jährige im selben Verfahren auch schon einmal Mandantin des Nebenklägervertreters gewesen ist und das Gericht ihn dennoch in diesem Prozess beigeordnet hat, nähre den Verdacht auf Befangenheit. Lucas: „Das ist eigentlich ein Skandal.“ Außerdem kritisiert der Anwalt, dass die Kammer die Beweisaufnahme schon jetzt geschlossen hat, obwohl er zuvor weitere Anträge angekündigt habe.

Ihn beschleiche das Gefühl, die Kammer habe die Geduld verloren und wolle zu einem Ende kommen. Lucas: „Es geht mir nicht darum, etwas in die Länge zu ziehen oder einzig auf eine Revision hinzuarbeiten. Das wäre ein Fehler, denn nur wenige Revisionen haben Erfolgsaussichten. Ich bin Überzeugungstäter. Ich will eine Strafe auf Bewährung erreichen. Ich sehe hier keinen Vorsatz, was den Vorwurf der Körperverletzung betrifft. Meine Mandantin hat die beiden Kinder - wenn - nicht bewusst leiden lassen. Nach meiner Überzeugung sprechen wir allenfalls von einem minderschweren Fall.“

Verteidiger spricht von tragischer Fahrlässigkeit

Lediglich der Umstand einer fahrlässigen Tötung sei für ihn nachvollziehbar. Wobei man sich vor Augen führen müsse, dass hinter einer Fahrlässigkeit nie kriminelle Energie stecke und sie damit auch für die mutmaßliche Täterin immer etwas sehr Tragisches sei.

Er mache seinen Beruf nicht aus Hobby und arbeite nicht mit der Stoppuhr. „Hätte ich nur solche zeitlich aufwändigen Fälle, müsste ich einpacken. Aber ich möchte dieses Verfahren aus tiefer Überzeugung zu einem für meine Mandantin vertretbaren Abschluss bringen.“

Prozess wird zur Zerreißprobe

Inzwischen wird der Prozess auch terminlich zu einer Zerreißprobe. Der Vertreter der Nebenklage hat sich nach einem weiteren Antrag des Verteidigers bereits von seinem Mandat entbinden lassen, weil wegen des Verfahrens gegen die zehnfache Mutter „der geregelte Ablauf meiner Kanzlei gefährdet ist“, so Oliver Brock aus Brilon.

Ein Sachverständiger war im Dezember/Januar nur an wenigen Tagen verfügbar; er hatte lange Zeit im Voraus Urlaub geplant. Auch ihn hatte die Verteidigung abgelehnt. Stephan Lucas selbst hat viele berufliche Verpflichtungen – u.a. im NSU-Prozess in München, aber auch durch sein Kabarett-Programm, mit dem er deutschlandweit auftritt.

Als „sehr komplexes Verfahren“ bezeichnet Dr. Johannes Kamp, Sprecher des Landgerichtes, den Prozess. Das Amtsgericht Medebach hatte den Fall im Frühjahr 2016 nach Arnsberg verwiesen. Ursprünglich hatte der Tatvorwurf dort fahrlässige Tötung bzw. fahrlässige Körperverletzung gelautet. „Jetzt steht Körperverletzung mit Todesfolge im Raum, was von vornherein einen gewissen Vorsatz einschließt“, so Dr. Kamp. Das Gericht habe die Beweisaufnahme geschlossen. Das bedeute, die Kammer sei der Ansicht, ausreichend Stoff als Grundlage für eine Entscheidung zu haben.

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