Medebach. . Dritter Prozesstag in Medebach: Eine neunfache Mutter muss sich wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung eines Sohnes und der fahrlässigen Körperverletzung ihrer Tochter verantworten.
Mit einem einzigen Satz hat Richter Ralf Fischer gestern Morgen die seelische Verzweiflung eines kleinen Mädchens zusammengefasst: „Schreien lohnte sich nicht mehr!“ Ein Kind, das um ein Haar verhungert und verdurstet wäre. Ein neun Monate junger Mensch, der verstummt war, weil seine eigene Mama dessen elementaren Bedürfnisse nicht mehr befriedigt hatte.
Tag der Psychologen
Vor dem Medebacher Amtsgericht muss sich seit einer Woche eine 38-jährige, neunfache Mutter aus dem Großraum Winterberg wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung eines Sohnes und der fahrlässigen Körperverletzung jener Tochter verantworten (wir berichteten). Der Junge, der vor einer Woche vier Jahre alt geworden wäre, war nur noch Haut und Knochen. Er starb. Seine Schwester konnte in letzter Sekunde gerettet werden. Die Mutter soll den Kindern nicht genug Nahrung angeboten haben. Zu allem Übel hatten die Kinder auch noch eine Durchfallerkrankung.
Der dritte Verhandlungstag ist der Tag der Psychologen. Eine ganz bedeutsame Aussage kommt von Dr. Thomas Schlömer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus Bad Fredeburg: „Die Angeklagte ist psychisch gesund. Ihre Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ist nicht beeinträchtigt.“ Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe die Frau gewusst, dass den beiden Kindern durch ihr Nicht-Handeln etwas Schlimmes passieren könne. Der Facharzt kommt zu der Ansicht, dass die neunfache Mutter aus Überforderung nicht adäquat reagiert hat. „Sie neigt generell dazu, unangenehme Dinge zu verdrängen und zu verleugnen. Sie hat wahrgenommen, dass da mit ihren Kindern etwas nicht stimmt. Aber sie hat es beiseite geschoben.“
Dies sei durchaus ein normales und kein krankhaftes psychologisches Phänomen. „Ich hatte einmal eine Patientin, die bis zu den Wehen nicht gewusst hat, dass sie schwanger war. Und es gibt Menschen, die krebskrank sind, einen riesigen Tumor haben und erst im Endstadium einen Arzt aufsuchen, weil sie sich die Krankheit nicht eingestehen wollten“, so Dr. Schlömer.
Eineinhalb Stunden lang wird die Öffentlichkeit gestern von der Sitzung ausgeschlossen, weil es um sehr persönliche Dinge geht. Aber danach fasst Richter Ralf Fischer sehr anschaulich zusammen, was die Diplom-Psychologen Hans Bierbrauer und Eva Pütz zuvor in einem Familiengutachten erörtert haben.
Demnach ist das fast verhungerte Mädchen regelrecht aufgeblüht, nachdem es der Mutter entzogen wurde. Es soll anfangs verstummt gewesen sein, binnen drei Wochen aber 2000 Gramm Gewicht zugelegt haben. Gegenüber Dritten soll das Kind ungewöhnlich liebebedürftig und zugewandt gewesen sein. Gegenüber der Mutter sei es verstummt und erstarrt. Aber auch von Gewalt des Kindsvaters ist die Rede. Ganz deutlich wird hingegen auch: Die Mutter selbst ist gegenüber ihren Kindern nie gewalttätig geworden.
Jugendamt informiert
Das Jugendamt des Vogtlandkreises, wo die Familie vorher gewohnt hatte, hat entgegen bisheriger Feststellungen den HSK nicht nur von einem mangelernährten Kind in Kenntnis gesetzt. Fischer: „Dort wurde detailliert aufgelistet, wo es gehapert hat.“ Von Kot an den Wänden und Gurten an den Betten soll die Rede gewesen sein. Einige Kinder hätten Verhaltensauffälligkeiten gezeigt – hätten vor sich hin- und hergeschaukelt. Fischer: „All das steht auch in den Unterlagen an das hiesige Kreisjugendamt. Die Sachverständigen sagen, dass ein ganzes Hilfspaket bei der Familie nötig gewesen wäre.“ Er betonte noch einmal in Richtung Jugendamt: „Bei solch einer Vorgeschichte wäre eine höhere Kontrolldichte dringend nötig gewesen.“
Alle Kinder sollen erhebliche Defizite gehabt haben: massive Störungen in der Kommunikation zwischen Mutter und Kind und im Essverhaltens. Fischer: „Die Kinder, die fremd untergebracht wurden, haben unmittelbar danach ohne Ende gegessen. Es war schwierig, ihnen wieder ein normales Essverhalten beizubringen. Für mich heißt das: Das Nahrungsangebot zu Hause war schlichtweg ungenügend.“