Ludwigsburg.. Die KTV Obere Lahn schreibt Geschichte mit 38:36-Sieg im DTL-Finale. Nach hohem Rückstand gegen die KTV Straubenhardt gelingt ein Riesencomeback.
Sie haben es tatsächlich geschafft: Vor ihrem Rückzug aus der 1. Kunstturn-Bundesliga haben die Turner der KTV Obere Lahn ihren Namen tief in die Siegertafel gemeißelt und erstmals den Pokal des Deutschen Meisters mitgenommen. Auch die Art und Weise war historisch: Die beiden Kunstturnvereinigungen lieferten sich einen epischen Kampf. Der 36:34-Erfolg der Oberen Lahn über den Serienmeister KTV Straubenhardt war das knappste Resultat seit Einführung des Score-Systems im Jahr 2004.
Vor dem letzten Reck-Duell stand es sogar unentschieden. Doch dann setzte sich Andrey Likhovitskiy mit 2:0 gegen Straubenhardts Ivan Rittschik durch und entfachte – nach zwei nervenzerreißenden Minuten Wartezeit auf die Wertung – einen Jubelsturm in Rot und Weiß. Nach Bronze im Vorjahr gegen Stuttgart nun also Gold.
Noch eine Premiere: Erstmals überhaupt setzte sich zudem ein nach Turnpunkten unterlegenes Team durch. Wäre es nach der Wertung des Weltverbandes FIG gegangen, hätte Straubenhardt sich hauchdünn mit sieben Zehntelpunkten Vorsprung durchgesetzt. Das Score-System bringt neben der rein sportlichen Leistung aber auch die Faktoren Taktik und Glück ins Spiel – und so hopsten am Ende die Lahntaler auf der obersten Treppchenstufe herum. „Nach Turnpunkten mal wieder verloren und wegen scheiß-geiler Taktik wieder gewonnen“, stellte der KTV-Vorsitzende Philipp Wiemers mit einem Lausbuben-Grinsen fest, nachdem ähnliche Taktik-Coups in diesem Herbst bereits der zweiten Mannschaft die Vizemeisterschaft in der 3. Bundesliga beschert hatten.
Katastrophaler Start im ersten „Viertel“
Chef-Stratege Felix Wiemers gab das Lob weiter: „Die Taktik ist nur aufgegangen, weil die Jungs ihre Übungen phänomenal durchgeturnt haben. Du kannst dir die geilste Taktik überlegen, aber die bringt nichts, wenn einer daneben greift.“
Eine weitere Pointe dieses Finals war die Entwicklung innerhalb dieses Wettkampfs. Innerhalb der ersten sechs Übungen unterliefen den „Titanen“ von der Lahn gleich drei Stürze. Artur Davtyan erwischte es am Boden genauso wie Lukas Dauser, der sich zudem auch auf dem Pauschenpferd nicht halten konnte. Straubenhardt nutzte diese Steilvorlagen und führte nach dem ersten „Viertel“ bereits 16:4.
„Der Beginn war nicht gerade königlich von uns“, stellte KTV-Sportwart Albert Wiemers im Nachklang fest. „Aber was danach passiert, ist irre. Als wir glaubten, wir haben verloren, haben sie sich da an den Nackenhaaren gezogen und gesagt, wir formatieren die Festplatte neu. Das war entscheidend.“
Die Wende läutete Andrey Likhovitskiy im letzten Pauschenpferd-Duell ein. Während sein Kontrahent Rittschik Federn lassen musste, kämpfte sich der Biedenkopfer in seiner Übung mit Mühe durch, verkürzte um fünf Zähler. Ab da lief es wie aus einem Guss für die Obere Lahn. Bei ihr notierten die Kampfrichter in 15 der letzten 16 Übungen E-Noten zwischen 8,3 und 9,4. Das bedeutet, sie sahen saubere Vorführungen – teils an der Grenze zur Perfektion. Diese waren indes auch nötig, um den Nachteil der durchschnittlich etwas geringeren Ausgangswerte – in Summe vier Punkte – wettzumachen.
An den Ringen halfen die Straubenhardter mit einem Sturz von Nils Dunkel noch etwas mit. Doch in der zweiten Hälfte des Wettkampfs turnten auch die Blau-Weißen auf einem fantastischen Level. Beide Teams rissen ihre Fans im munteren Wechsel von den Sitzen.
Dirk Walterspacher gratuliert: „Glücklich, aber verdient“
Misslungene Abgänge von Straubenhardts Daniel Popescu am Sprung sowie von Fabian Lotz (Obere Lahn) am Barren blieben die einzigen Patzer. Das Finale hielt, was es versprochen hatte. „Beide Mannschaften haben auf höchstem Niveau ihre Leistungen gezeigt, da kann ich keinen Unterschied feststellen“, fand Straubenhardt-Trainer Dirk Walterspacher: „Obere Lahn hat glücklich gewonnen, aber auch verdient. Es waren immerhin zwei Score-Punkte Differenz.“ Walterspacher weiter: „Wirklich enttäuscht kann man nicht sein. Das war ein Super-Wettkampf.“
Tolle Einzelgeschichten gab es aus Sicht der Oberen Lahn viele. Etwa die, dass Karim Rida am Boden dem stark auftrumpfenden Marcel Nguyen nur zwei Scorer überließ. Oder die von Nick Klessing, der sowohl seinen Dreifach-Salto-Abgang an den Ringen als auch seinen Überschlag mit Doppelsalto beim Sprung ideal in den Stand setzte. Auch Thao Hoang turnte dreimal blitzsauber.
Fabian Lotz erst der Depp, dann der Held
Fabian Lotz vergab mit seinem Sturz am Barren eine vermeintlich mögliche Vorentscheidung – und legte dann mit der besten Reckübung des Abends, die drei Scorer gegen Nguyen bedeuteten, einen gewaltigen Stein auf dem Weg zum Triumph. Albert Wiemers: „Wie er aufsteht und so ein Ding hinzaubert, ist klasse.“
Aus einem persönlichen Tief musste sich auch Lukas Dauser nach seinen Fehlern zu Wettkampfbeginn herauskämpfen, glänzte danach an den vier weiteren Geräten. Am Barren verzichtete er wie nach dem „Turnier der Meister“ vermutet zwar auf den Makuts, dennoch luchste er Rittschik drei Punkte ab. „Dass ich absteigen musste, ist mir jetzt scheissegal. Ich glaube, wir waren die einzige Mannschaft, die Straubenhardt Paroli bieten konnte“, sagte der Unterhachinger: „Wir wussten, dass wir vielleicht einen kleinen Tick schlechter sind. Aber wir sind als Team besser.“ Auch die knappe Qualifikation für das Finale vor zwei Wochen, verbunden mit einem rauschenden Abend in Biedenkopf, habe die Mannschaft in dieser Hinsicht noch einmal beflügelt.
Eiswasser statt Blut in den Adern
Ein Unentschieden vor dem letzten Duell und zwei Turner, deren Leistungsvermögen am Reck auf dem gleichen Level einzustufen ist, die exakt den gleichen Schwierigkeitswert (D-Note 5,5) vorlegen – eine Steigerung der Spannung ist in diesem Moment nicht mehr möglich. Die Turner beider Mannschaften stehen Arm in Arm, den Trainern steht der Schweiß auf der Stirn, alle Blicke und Kameras richten sich auf das Königsgerät bzw. die beiden letzten Akteure. Ivan Rittschik legt für Straubenhardt nicht blitzsauber, aber doch ohne großen Fehler vor.
Und Andrey Likhovitskiy, letzter Turner der KTV Obere Lahn? Spaziert in Seelenruhe durch die Meute, bestreicht mit Bedacht die Hände mit Magnesia, lockert die Schultermuskulatur und achtet darauf, seine Sandalen noch ordentlich neben die Matte zu stellen. So, als stünde er allein in der Trainingshalle. So, als ginge es ihn nichts an, dass die Sehnsucht seines Vereins und die Träume seiner Freunde von seiner Performance abhängen. Oder so, als würde Eiswasser und kein Blut durch seine Adern fließen.
Der 32-Jährige tut, was er immer tut: Er springt ans Reck, schwingt wie eine Maschine um die Stange, findet nach seinen Flugteilen ans Gerät zurück. Er wirbelt in wunderschön gebückter, fast grotesker Haltung durch die Luft, landet sicher. Dies versetzt sowohl seine Teambox als auch den Fanblock in Extase. Die Wertung gilt es zwar abzuwarten, doch alle ahnen das Ergebnis voraus – auch die Straubenhardter, die gebückt der Kampfrichter-Entscheidung entgegensehen.
Klar: Kein KTV-Fan kann sich entsinnen, Likhovitskiy je bei einem Wettkampf vom Reck purzeln zu sehen. Doch das hier ist noch einmal etwas ganz und gar Außergewöhnliches – wie der entscheidende Elfmeter in einem WM-Finale. „Ich hätte jedenfalls nicht an seiner Stelle sein wollen“, gestand Jakob Paulicks, der als erster für die Obere Lahn ans Reck ging. „Dass er eine abgezockte Sau ist, hat er uns schon mehrfach bewiesen. Aber es in so einer Situation so auf die Matte zu stellen, ist einfach abartig.“
Eine Gabe, die nur wenige haben
Likhovitskiy hat diese Gabe. „Der Andrey kann in einen Tunnel, der kann sich in so eine Art Trance versetzen“, erklärt Sportwart Albert Wiemers: „Ich glaube, das können nur ganz, ganz Wenige. Von daher war es auch die beste Entscheidung zu sagen, Andrey turnt für uns zum Schluss.“
Wer den früheren Olympia-Turner und Sieger mehrerer Weltcups nach seinem Coup beobachtet, sieht, dass ihm das alles natürlich nicht egal ist – ausgelassen wie Samstag hat man ihn selten gesehen. Auch wenn er behauptet: „Ich schiebe im Kopf alles weg und mache es wie immer. Ich war ganz ruhig, ich brauchte ja nur meinen Job zu machen.“
Nur ein Job, wirklich? Die KTV Obere Lahn ist für Likhovitskiy längst zur neuen Heimat geworden. 2012 kam er zunächst als Legionär, als Nachfolger und Upgrade des Ukrainers Alexey Koltakov. Anfangs flog Likhovitskiy stets zurück nach Rostow am Don, ehe er ab und zu eine Woche blieb – mal bei Teamkollege Waldemar Schiller, mal bei Familie Wiemers.
Neue Heimat im Hinterland
Dann brachte er sich, ohne dass er danach gefragt worden wäre, beim Nachwuchstraining ein. Weil er dabei erstaunliches sportwissenschaftliches Know-How einbrachte, griff die KTV zu und verpflichtete den Mann mit dem weißrussischen Pass 2013 als Jugendtrainer. „Hier kann ich als Trainer arbeiten. Das ermöglicht mir einen ganz anderen Lebensstandard als in Russland“, sagt Likhovitskiy, der mit seiner Frau Lubov Likhovitskaya in Biedenkopf wohnt und seine Zukunft plant: „Es ist eine schöne kleine Stadt mit guten Leuten. Ich mag die Umgebung, den Wald. Alles.“
„Luba“ stattet er nach der Siegerehrung in Ludwigsburg zuerst einen Besuch ab – nach langem Suchen findet er sie in der letzten Reihe, läuft quer über Sitze und Treppen hinauf und holt sich sein Belohnungs-Küsschen, ehe es später gemeinsam zur Meisterfeier geht – erst im Saal der Deutschen Turnliga, dann in einer Stuttgarter Discothek. Likhovitskiy ist müde, klagt aber nicht: „Es war ein schwieriger Wettkampf, wir mussten kämpfen. Jetzt bin ich sehr glücklich.“
Die Statistik
KTV Straubenhardt - KTV Obere Lahn 34:36
(Turnpunkte 321,80:321,05;
Gerätpunkte 6:6)
Boden
D. Belyavskiy - A. Davtyan 13,70:12,70 3:0
I. Rittschik - T. Hoang 13,10:13,30 0:1
B. Gladow - L. Dauser 12,70:12,40 2:0
M. Nguyen - K. Rida 14,10:13,65 2:0
53,60:52,05 7:1
Pauschenpferd
I.D. Popescu - F. Lotz 11,45:12,10 0:3
N. Dunkel - L. Dauser 12,60:10,35 5:0
D. Belyavskiy - K. Rida 14,10:12,45 4:0
I. Rittschik - A. Likhovitskiy 11,55:13,70 0:5
49,70:48,60 9:8
Ringe
M. Nguyen - A. Davtyan 13,80:14,10 0:2
V. Davtyan - L. Dauser 14,25:13,30 3:0
N. Dunkel - T. Hoang 12,05:14,00 0:4
T. Radoi - N. Klessing 12,80:13,95 0:4
52,90:55,35 3:10
Sprung
D. Belyavskiy - T. Hoang 14,35:13,65 3:0
M. Nguyen - N. Klessing 14,40:14,35 0:1
N. Dunkel - L. Dauser 13,65:13,95 0:2
I. D. Popescu - A. Davtyan 13,35:14,10 0:3
56,05:56,25 3:6
Barren
D. Belyavskiy - J. Paulicks 15,00:12,95 5:0
M. Nguyen - A. Likhovitskiy 13,60:14,35 0:3
I. Rittschik - L. Dauser 13,45:14,25 0:3
N. Dunkel - F. Lotz 13,80:12,50 4:0
55,85:54,05 9:6
Reck
B. Gladow - J. Paulicks 13,55:13,60 0:0
M. Nguyen - F. Lotz 13,25:14,00 0:3
D. Belyavskiy - L. Dauser 13,80:13,25 3:0
I. Rittschik - A. Likhovitskiy 13,40:13,90 0:2
54,00:54,75 3:5
Topscorer im Finale:
David Belyavskiy (Straubenhardt) 18
Andrey Likhovitskiy (Obere Lahn) 10
Nils Dunkel (Straubenhardt) 9
Fabian Lotz (Obere Lahn) 6
Artur Davtyan (Obere Lahn) 5
Top-Scorer der Saison:
Waldemar Eichorn (TG Saar) 77
Igor Radivilov (SC Cottbus) 75
Andrey Likhovitskiy (Obere Lahn) 69
Marcel Nguyen (Straubenhardt) 67
Leonard Prügel (SC Cottbus) 67