Biedenkopf. . KTV Obere Lahn feiert 81:8-Rekordsieg und greift nun nach der Meisterschaft. Emotionaler Abend im letzten Erstliga-Heimwettkampf vor dem Rückzug
Die letzte Übung war lange geturnt, jedes Resultat verkündet, alle Worte waren gesagt – und doch verweilten um 21 Uhr, eine Stunde nach Wettkampfende, noch mehrere hundert Zuschauer in der Turnhalle der Lahntalschule in Biedenkopf. Vielleicht, weil es ihnen ging wie Fabian Lotz, der nach dem letzten Heimwettkampf der KTV Obere Lahn vor ihrem Rückzug aus der 1. Kunstturn-Bundesliga von einem „komischen Gefühl“ sprach: „Man versucht alles noch einmal zu genießen, alles noch einmal aufzusaugen. Dass es so gelaufen ist – umso geiler.“
Ausverkauftes Haus mit knapp 1500 Zuschauern, ein 81:8-Rekordsieg gegen das KTT Heilbronn, knisternde Spannung im Fernduell mit Cottbus und das gewünschte Ergebnis – den Abend hätte sich der Verein schöner nicht malen können. Nachher waren mehr Zuschauer auf dem „Platz“ als auf der Tribüne, weil sie alle noch ein Gespräch, ein Foto oder ein Autogramm von ihren Turnern wollten. Es war wie bei einem Platzsturm im Fußball, nur weniger wild. Die Fans stimmten das Lied über die „Mannschaft aus Titan“ an, die Turner sangen vom Finale.
Finale steigt am 1. Dezember
Möglich gemacht hatte es die Siegerländer KV, die der KTV mit einem 38:33-Sieg in Cottbus die erhoffte Schützenhilfe geliefert und den Sprung auf Platz zwei noch möglich gemacht hatte – gleichbedeutend mit der Qualifikation zum „großen“ Finale der Deutschen Turnliga, in dem es am Samstag, 1. Dezember, ab 18 Uhr in Ludwigsburg um die Goldmedaille geht. Ein Abtritt als Deutscher Meister – das wär’s natürlich.
KTV Obere Lahn qualifiziert sich für das große Finale
„Wir müssen uns was einfallen lassen für die Siegerländer“, zeigte sich KTV-Sportwart Albert Wiemers dankbar dafür, dass die SKV mit „voller Kapelle“ in die Lausitz gefahren war. Zugleich bedauerte er, dass sich für den Nachbarn die Hoffnungen auf das „kleine“ Finale um Bronze zerschlugen, weil die TG Saar gegen eine erneut nicht in Bestbesetzung turnende KTV Straubenhardt gewann und ihren vierten Platz knapp verteidigte.
Die Obere Lahn wiederum wird sich steigern müssen, um sich den Traum vom Titel zu erfüllen. Die Heilbronner, die dank des zweifachen Nichtantritts des MTV Stuttgart die Klasse halten, waren kein Maßstab. „Man hat an der Körpersprache gesehen, dass die Spannung teils gefehlt hat“, sagte Taktik-Chef Felix Wiemers: „Dadurch hatten wir dann einige Fehler.“
Dass Lotz vom Pauschenpferd absteigen musste, dass Nick Klessing seine zwei Übungen sitzend beendete, dass Thao Hoang seinen Barren-Abgang nicht stand – alles ohne Folgen auf dem Score-Board. Das 81:8 war das höchste Ergebnis in der Turnbundesliga seit 2009, als durch unvollständig antretende Teams und etliche Zehnerwertungen zwei dreistellige Resultate zugunsten der KTV Straubenhardt herauskamen.
Ein Klassenunterschied
Das eher regional zusammengestellte Heilbronner Team konnte mit den Schwierigkeitswerten der deutschlandweit rekrutierten KTV-Asse schlicht nicht mithalten. Obendrein war das KTT ersatzgeschwächt und erwischte einen gebrauchten Tag mit vielen Patzern.
Am Ende reichte es in Summe zu gerade mal 275,90 Turnpunkten für die Gäste. Zum Vergleich: Die zweite Mannschaft der KTV Obere Lahn, die im Vorfeld des Erstliga-Duells einen Drittliga-Wettkampf bestritt, holte am Nachmittag einen Turnpunkt mehr.
„Respekt an die Heilbronner, dass sie sich der Sache gestellt und gekämpft haben, obwohl sie sich nichts ausrechnen konnten“, lobte Felix Wiemers den Sportsgeist der Gäste. Beim eigenen Team hatte er Spaß an vielen starken Übungen.
Viele Weltklasse-Leistungen
Sebastian Quensell feierte nach einem Jahr Verletzungspause ein fehlerfreies Comeback am Pauschenpferd, der Armenier Artur Davtyan bot Weltklasse an Boden und Ringen. Lotz, Dauser und Likhovitskiy wirbelten traumhaft schön an den Barren-Holmen. Letzterer setzte am Reck einen begeisternden Schlusspunkt, als er noch einmal seine Eigenkreation, den „Likhovitskiy“, auspackte. Als er seinen Abgang direkt in den Stand setzte, erreichte die Lautstärke ihren Höhepunkt.
Dass der Weißrusse sich den Sieg in der Top-Scorer-Wertung mit Lotz teilte, war eine schöne Pointe. Beide teilen sich ja auch den Status als Publikumsliebling. Likhovitskiy als punktbester und zuverlässigster der gesamten Bundesliga in den vergangenen Jahren, Lotz, weil er zehn Jahre am Stück in jedem Wettkampf der KTV dabei war – Leistungen und Verdienste, die nicht ohne Herzblut und eisernen Einsatz möglich sind.
Auf anderer Ebene gilt dies für den Vorstand und besonders die Familie Wiemers, die den Verein maßgeblich aufgebaut hat. Sie wurde von Landrätin Kirsten Fründt, von den Zuschauern und Turnern – Thore Gauch hielt eine ergreifende Abschiedsrede – mit Lob und Geschenken überhäuft. Für Albert Wiemers, auch mit 60 Jahren noch ein Mann wie ein Fels, war das alles dann doch etwas zu viel. Ohne Tränen ging es diesmal nicht.
Zwei, Drei, Eins?
„Mit zwei Mannschaften auf Bundesliga-Ebene dabei zu sein, ist für uns nicht leistbar. Das haben die vergangenen Wochen erneut gezeigt“, betonte Albert Wiemers jedoch, dass die Entscheidung über den Bundesliga-Rückzug richtig war. Aber ganz vorbei ist es ja erst in zwei Wochen. Wiemers freut sich: „Mal sehen, ob wir uns nach einem zweiten und zwei dritten Plätzen jetzt noch steigern können.“ – Die Statistik:
KTV Obere Lahn - KTT Heilbronn 81:8
Turnpunkte: 319,80:275,90; Gerätpunkte: 12:0
Boden
K. Rida - C. Hörr 12,60:13,10 0:2
L. Gauch - M. Thiele 13,15:11,20 4:0
A. Davtyan - F. Späth 14,20:12,05 5:0
T. Hoang - G. Mitchell 12,55:12,75 0:1
52,50:49,10 9:3
Seitpferd
F. Lotz - S. Payer 11,80:8,70 5:0
K. Rida - C. Hörr 12,85:13,25 0:2
A. Likhovitsky - Thompson 14,60:11,45 5:0
S. Quensell - M. Thiele 12,25:7,35 5:0
51,50:40,75 15:2
Ringe
K. Rida - S. Payer 12,55:8,35 5:0
A. Davtyan - R. Beckford 14,60:13,30 4:0
N. Klessing - C. Hörr 13,10:13,20 0:0
T. Hoang - P. Storz 13,85:10,10 5:0
54,10:44,95 14:0
Sprung
L. Dauser - G. Thompson 13,10:13,20 0:0
T. Hoang - S. Payer 13,95:12,75 4:0
A. Davtyan - C. Hörr 13,10:13,85 0:3
N. Klessing - M. Marbach 12,75:11,40 4:0
52,90:51,20 8:3
Barren
T. Hoang - S. Payer 13,25:11,40 4:0
F. Lotz - C. Hörr 14,15:12,15 3:0
A. Likhovitskiy - Beckford 14,55:12,60 0:0
L. Dauser - P. Storz 14,50:10,70 0:0
56,45:46,85 17:0
Reck
J. Paulicks - M. Thiele 13,05:10,15 0:0
F. Lotz - S. Payer 13,45:10,20 5:0
L. Gauch - R. Beckford 11,75:11,15 3:0
A. Likhovitsky - C. Hörr 14,10:11,55 5:0
52,35:43,05 18:0