Attendorn. Als „Demokratennest“ bezeichnete die Obrigkeit vor 175 Jahren verächtlich die freiheitliche Bewegung in Attendorn. Daran wurde jetzt erinnert.

Die traditionsbewussten Attendorner sind stolz auf ihre alte Hansestadt, rufen auf Karneval laut „Kattfiller“ und begrüßen sich in der Osterzeit mit einem kräftigen „Guet Füer“. Und ganz nebenbei ist die Stadt ein „Demokratennest“. So nannte die konservativ-reaktionäre Obrigkeit vor 175 Jahren verächtlich die freiheitliche Bewegung vieler Attendorner Bürger. Nicht nur für den stellvertretenden Bürgermeister Uli Selter (CDU) ist „der als Schandspruch gemeinte Ausdruck der Reaktion zu einem Kosewort der Jetztzeit geworden“.

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Erst vor einigen Tagen zogen fast 1500 Menschen friedlich durch die Innenstadt und demonstrierten eindrucksvoll gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Für die Menschen, die sich 1848/49 zu den Werten von Freiheit und Gleichheit bekannten und „in großen Haufen durch die Straßen zogen“, bei den Wirtshäusern Halt machten und die „angesehensten Bürger der Stadt“ zwangen „mitzutrinken und auch Bier und dergleichen zum Besten zu geben“, waren solche Demonstrationen alles andere als selbstverständlich und erforderten eine Menge Mut. Auch wenn „trotz des politischen Anlasses der Aufzug etwas von einem tollen Fastnachtstreiben“ hatte.

Das war schon der Kracher. An gleicher Stelle wie vor 175 Jahren, der Kuckel voller Demokraten und dann die schönen Lieder gesungen. Das hatte schon etwas mit Gänsehaut zu tun.
Peter „Pittjes“ Höffer

Diese und andere Anekdoten aus der Zeit, als Attendorn von den Feinden der Demokratie den Stempel „Demokratennest“ aufgedrückt bekam, erzählte Peter „Pittjes“ Höffer bei einer besonderen Stadtführung. Dabei berief sich Höffer auf die Ausführungen von Dieter Pfau, Hermann Forck und Hermann Hundt. Heimatforscher Hundt gehörte zu den zahlreichen Teilnehmern bei dieser geschichtsträchtigen Stadtführung zum Aktionstag „Demokratennest Attendorn“. Der Termin an diesem Montag war nicht zufällig gewählt. Denn am 18. März 1848 fand in Berlin die Märzrevolution mit Straßenkämpfen statt. Auch in Attendorn „gärte“ es damals, begehrten Bürger gegen die Obrigkeit auf. Vom Kirchturm wehte am 26. März die schwarz-rot-goldene Fahne, die Farben der „Befreiungskriege“. Am 2. Juli erschien die erste Nummer der Demokratenzeitung „Attendorner Blätter“, gedruckt im Hause „Ankerdruck“. Das Gebäude gegenüber dem heutigen Rathaus ist längst abgerissen.

Auf dem Rathausvorplatz treffen sich viele Interessierte, die an der besonderen Stadtführung zum Aktionstag
Auf dem Rathausvorplatz treffen sich viele Interessierte, die an der besonderen Stadtführung zum Aktionstag "Demokratennest Attendorn" teilnehmen wollen, darunter Heimatforscher Hermann Hundt (Mitte). © Martin Droste | Martin Droste

Es dauerte nicht lange, bis am 10. September ein „Demokratischer Verein“ gegründet wurde, dem nicht weniger als 170 Bürger angehörten. Frauen spielten damals wohl keine Rolle. „Die anschließende Nacht sei unruhig gewesen und habe die Stadt kaum schlafen lassen“, zitiert Peter Höffer die Chronisten. Versammlungs- und Vereinslokal war die Gaststätte „Zum Kuckel“ im Herzen der Altstadt. Gefordert wurden von den Demokraten vor allem die Pressefreiheit und Aufhebung der Zensur, Freiheitsrechte, die Gleichheit aller Menschen, die deutsche Einheit (!) und das Ende der Aufhebung des Turnverbots.

Rückschlähe häuften sich

Die sprichwörtliche Reaktion der Obrigkeit ließ nicht lange auf sich warten, fiel zunächst aber kläglich aus. Konservative Kreise um Vikar H. J. Hundt versuchten Ende September 1848, einen „Katholischen Verein“ als Gegenpart zu gründen. Aber nur vier Interessierte erschienen in der „Wasserrose“ genannten Wirtschaft in der Wasserstraße, die „Demokraten“ hatten zu diesem Zeitpunkt schon 170 Mitglieder. „Es war sehr unruhig in Attendorn. In einer Nacht wurde der Bekanntmachungspfahl auf dem Kirchhofe ausgerissen“, berichtete Peter „Pittjes“ Höffer auf seiner Stadtführung der besonderen Art. Das „Demokratennest“ hatte Strahlkraft über die Stadtgrenzen hinaus. In Olpe entstand ein „Politischer Verein“. Hier soll ein Dachdecker auf den Kirchturm geklettert sein, die Demokratenfahne gehisst und von oben heruntergerufen haben: „Ordnung mat sinn, aber nit te vill“. In Bilstein, Schönholthausen und im damaligen Amt Serkenrode bildeten sich ebenfalls demokratische Vereine.

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Die Rückschläge häuften sich. Der unter anderem für die „Attendorner Blätter“ verantwortliche Redakteur Schmitz wurde verhaftet. Die Demokraten Justus und Fritz Plange entzogen sich ihrer Verhaftung durch die Flucht über Belgien nach Paris. Als der Attendorner Theodor Frey nach seiner Gefängnisstrafe wegen Aufrufs zur Steuerverweigerung wieder freigelassen wurde, war fast die ganze Stadt auf den Beinen, „zog ihm im Triumphzug eine halbe Stunde weit mit der Märzfahne entgegen und brachte ihn zu den Seinen zurück“. Am 18. März 1849 wurde im „Kuckel“ zur Jahresfeier des Demokratischen Vereins um 12 Uhr mittags die schwarz-rot-goldene Fahne herausgehängt. Noch einmal beschwörten viele Mitglieder „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und gedachten „unseren am 18. und 19. März 1848 in Berlin gefallenen Brüdern“. Danach nahmen die Aktivitäten der Demokraten im „Demokratennest“ Attendorn ab, Ende Juni 1849 wurden die „Attendorner Blätter“ eingestellt.

Wie vor 175 Jahren weht an der Gaststätte
Wie vor 175 Jahren weht an der Gaststätte "Zum Kuckel" wieder die schwarz-rot-goldene Fahne.  © Martin Droste | Martin Droste

Am 18. März 2024 wehte an der geschichtsträchtigen Gaststätte „Zum Kuckel“ wieder die schwarz-rot-goldene Fahne. Nach der Stadtführung sowie der anschließenden Veranstaltung im Bürgerhaus „Alter Bahnhof“ mit einem Vortrag des Landtagsabgeordneten Dr. Gregor Kaiser (Grüne) und einer Podiumsdiskussion hatte die Stadt zu einem Freigetränk im ehemaligen Hauptquartier der Attendorner Demokraten eingeladen. „Das war schon der Kracher. An gleicher Stelle wie vor 175 Jahren, der Kuckel voller Demokraten und dann die schönen Lieder gesungen. Das hatte schon etwas mit Gänsehaut zu tun“, berührte Peter „Pittjes“ Höffer der emotionale Ausklang des Dreiklangs aus „Rundgang, Podium und anschließend Kuckel“.

Quellen: Dieter Pfau: 200 Jahre Kreis Olpe, Aufzeichnungen und Forschungen von Hermann Forck und Hermann Hundt.