Paris. Borussia Dortmund bekommt es im Champions-League-Finale mit Real Madrid tun. Auf der Reise nach Wembley musste der BVB Höhen und Tiefen erleben.
Für Sebastian Kehl war am späten Mittwochabend ein kleiner Wermutstropfen dabei. Gerne hätte Borussia Dortmunds Sportdirektor „die Revanche gegen Bayern genutzt“, gestand der 44-Jährige. 2013, da musste Kehl ja als Spieler mit schwarz-gelb-gestreiftem Trikot mitansehen, wie Arjen Robben den Ball an Roman Weidenfeller vorbeischob. Ins Münchener Glück, mitten ins Dortmunder Herz. Die Bayern gewannen das Bundesliga-Duell im Finale der Königsklasse.
Im größeren Kontext aber ist jener Tropfen nur unter einem Mikroskop ersichtlich. Begeisterung, Euphorie, Glückseligkeit – das sind schon eher die Attribute, die man allen zuschreiben muss, die es mit dem BVB halten. Denn anders als der FC Bayern haben es die Dortmunder ja erneut nach Wembley geschafft, am 1. Juni (21 Uhr/ZDF und DAZN) werden sie völlig überraschend Real Madrid und Jude Bellingham um den silbernen Pokal herausfordern. „Real ist eine richtige Finalmaschine, deswegen gehen sie als Favorit ins Finale“, sagte Kehl. „Aber warum sollte uns nicht das Wunder gelingen? Ich glaube, dass wir genug Waffen haben.“
BVB hat das Gefühl, jeden besiegen zu können
Spätestens seit Dienstagabend, seit dem 1:0 (0:0) im Halbfinal-Rückspiel bei Paris Saint-Germains Starensamble, hat sich in den schwarz-gelben Köpfen ja ohnehin der Gedanke eingenistet, es mit jedem Namen im europäischen Fußball aufnehmen zu können. „Es ist ein extrem schöner Moment. Wir können den Fans etwas zurückzahlen. Jetzt wollen wir den Henkelpott nach Dortmund holen“, kündigte Dortmunds Trainer Edin Terzic an, und ergänzte: „Das ist die wunderschöne Seite des Fußballs.“
Zu ihr gehört genauso die wundersame Reise in dieser Königsklassen-Saison, die mit den teils biederen Auftritten im Täglichbrot-Geschäft Bundesliga nichts gemein hat. Mit einer besorgniserregenden Niederlage in Paris starteten die Dortmunder, es folgte ein torloses Remis gegen die AC Mailand. „Nach dem zweiten Spieltag hat niemand an uns geglaubt, wir hatten einen Punkt“, erinnerte Kapitän Emre Can. „Aber wir haben an uns geglaubt, das war das Wichtige. Das ist der Grund, warum wir hier stehen. Das haben wir uns verdient.“ Der BVB siegte in San Siro, er gewann zweimal gegen Newcastle United, er setzte sich mühevoll gegen den späteren niederländischen Meister PSV Eindhoven im Achtelfinale durch, er erlebte eine magische Rückspiel-Nacht gegen Atlético Madrid, nachdem er in der ersten Partie beinahe böse untergangen wäre.
BVB erlebt in Paris eine lange Party-Nacht
Und nun zwei Siege gegen Paris. Dank Klasse, Kampf, Leidenschaft. Aber auch mit reichlich Dusel, Dortmunds Tor, genauer: Latte und Pfosten zogen den Ball am Dienstag an, als hätte sich im Leder ein Magnet versteckt. „Nach der Führung habe ich alle anderthalb Minuten auf die Tafel geschaut“, meinte Innenverteidiger Nico Schlotterbeck, der gemeinsam mit Torschütze Mats Hummels (50.) einen bärenstarken Auftritt hinlegte. „Ein Angriff nach dem anderen kam auf uns zu, wir kamen gar nicht mehr aus der Box raus, hatten kaum Entlastung. Aber am Schluss ist es mir scheißegal, wie wir gewinnen.“
All dies feierte die Elf im Domaine Reine Margot, der Klub hatte das komplette Hotel vorab gemietet. Es gab Pizza, Burger, Bier, Wein und Champagner. Die Familien und Freunde durften dazustoßen. Erst gegen 4.30 Uhr wurde es ruhiger. Einige Profis zogen aber sogar noch hinaus in das Nachtleben der französischen Metropole. Grenzen gab es keine.
BVB: Über allem steht in Dortmund Marco Reus
Dortmunds Reise bietet so viele Geschichten, das man sie in ein eigenes Magazin pressen könnte. Nur ein paar Beispiele.
Edin Terzic war beim ersten und einzigen Champions-League-Triumph 1997 Fan. Nun kann der Mendener, dessen Job im Winter noch auf der Kippe stand, in die Fußstapfen des großen Ottmar Hitzfelds treten – und kann auf einen neuen Vertrag hoffen.
Stürmer Niclas Füllkrug, der viele Jahre nur Zweite Liga gespielt hat, spielte im Halbfinale über seinem Limit, schoss wie in der Runde zuvor gegen Atlético ein wichtiges Tor, welche das Westfalenstadion im Hinspiel zum Wackeln brachten.
Mats Hummels in Überform.
Über allen aber stand Marco Reus, das Fan-Idol, das seinen Klub am Ende der Saison verlassen wird. Der Mann mit so viel Fußball-Feingeist, unzähligen Verletzungen und viel zu wenigen Titeln, stand am Dienstag tiefberührt im Dortmunder Gästeblock und stimmte das Europapokal-Lied an. Sein letztes Spiel wird das Champions-League-Finale sein, ein Märchen ist in der Mache.
„Jetzt müssen wir den Titel holen“, sagte Reus. „Sonst wäre es scheiße.“