Turin. Bei den ATP-Finals kann Jannik Sinner eine Saison mit vielen Siegen krönen – über der aber der Schatten einer Doping-Affäre liegt.
Als Jannik Sinner vor einem Jahr den Großmeister Novak Djokovic in der Gruppenphase der ATP-Finals in Turin schlug, galt der Coup noch als mittelschwere Sensation. Im Tiebreak des dritten Satzes war der Lokalmatador ein letztes Mal ans Netz vorgerückt, hatte dann lässig einen Schmetterball im gegnerischen Feld zum umjubelten Triumph verwandelt und anschließend von einem „unglaublichen Erlebnis“ vor den eigenen aufgepeitschten Tifosi gesprochen: „Welch eine Nacht.“
Sinner verlor zwar später das Turiner Endspiel in einer Neuauflage des Duells mit dem ewigen „Djoker“, dennoch war das 2023er-Finalturnier der Profis ein Erweckungserlebnis und Aufbruchmoment für den jungen Burschen aus dem Pustertal. Wenig später im November der Vorsaison gewann Sinner mit dem italienischen Team den Davis Cup – und zum Start in diese Spielzeit sorgte er in Australien beim Grand-Slam-Spektakel für den ersten wirklich großen Paukenschlag als „König von Melbourne.“ Geboren war so auch, wie Tenniskanzler Boris Becker anmerkte, „einer der Männer, denen ganz entscheidend die Zukunft in diesem Sport gehört.“
Im Grunde hat Sinner nur eine aufregende und in jeder Beziehung ereignisreiche Spielzeit gebraucht, um jetzt eine dominierende Position im Herrentennis einzunehmen. Wenn der 23-Jährige nun zurückkehrt in den Pali Alpitour, zum Serienfinale 2024 der acht Besten des Planeten, dann nicht mehr als Spieler, der für Überraschungen sorgt. Sondern als Nummer-1-Mann, der vom Rest der Meute gejagt wird und mit einem zunächst komfortablen Vorsprung von fast 4000 Punkten in der Rangliste auf den ärgsten Verfolger Alexander Zverev ins Rennen geht. Den letzten Auftritt vor den ATP Finals musste Sinner in Paris kurzfristig wegen einer Darminfektion absagen, zum Heimspiel in Turin allerdings sollte er wieder fit und unternehmungslustig genug sein, um erstmals den Titel gewinnen zu können. Sinner trifft in seinem ersten Match am Sonntagabend auf den Australier Alex de Minaur.
Eine Dopingaffäre voller Ungereimtheiten
Sinners Saison 2024 (65:6-Siege) war über weite Strecken geprägt von herausragenden Siegen und dem Sturm an die Ranglistenspitze, bis eine zurückliegende Dopingaffäre im Sommer, kurz vor den US Open, dem Ganzen eine ambivalente Note verlieh. Rund um die Masters-1000-Turniere in Indian Wells und Miami hatte es im Frühjahr zwei positive Dopingtests bei Sinner gegeben, vermeintlich hatte ein Masseur aus seinem Team die Kontamination mit dem anabolen Steroid Clostebol verursacht.
Allerdings sorgten Ungereimtheiten, Verfahrensprobleme, eine potenzielle Sonderbehandlung Sinners für reichlich Gesprächsstoff, noch dazu die übliche Praxis im Tennis, die Causa zunächst für Monate aus der Öffentlichkeit bis zu einem Urteil fernzuhalten. Ganz ausgestanden ist die Angelegenheit für Sinner auch nicht, da die Weltdopingagentur inzwischen das Urteil eines unabhängigen Schiedsgerichts angefochten hat.
Jannik Sinner gilt schon lange als „das nächste große Ding“ im Tennis
Sinner hatte inmitten des ganzen Dopingtrubels erstaunlich souverän auch das letzte mächtige Wort in der Grand-Slam-Saison gehabt und an seinem Titelgewinn in New York fast nie einen Zweifel gelassen. „Italiens beliebtesten Sportler“ nannte ihn die „Gazzetta dello Sport“ nach dem Sprung auf den Thron im Big Apple: „Er ist einfach ein netter Junge wie der Freund von nebenan.“ Nicht nur TV-Experte Becker wunderte sich im Übrigen über den „unerschütterlichen Glauben“ und die „mentale Stärke“ des Südtirolers: „Er hat stahlharte Nerven.“ Kein Wunder, dass im Tourtross für Sinner auch das Schlagwort „Ice-Man“ kursiert. Der Eiskalte.
Sinner wird schon seit Teenagerzeiten als „das nächste große Ding“ im Welttennis gehandelt, ähnlich wie Carlos Alcaraz. Allerdings bremsten den Himmelsstürmer aus dem verschwiegenen Örtchen Innichen zunächst die Wirrnisse der Corona-Spielzeiten und danach auch einige Verletzungs-Zwangspausen. Doch 2023 begann dann Sinners Klasse immer stärker, immer eindrucksvoller aufzuscheinen, gerade mit serienweisen Erfolgen gegen Top-Ten-Konkurrenz. Was ihn auszeichnete, beschrieb er selbst so: „Für mich ist das Wichtigste, dass ich ruhig, konzentriert und mutig auftrete. Ich will immer eine gewisse Ruhe ausstrahlen.“ Er ist der Mann der auslaufenden Saison, keine Frage. Der Heim-Spieler, der in Turin dem Ganzen noch die Krone aufsetzen will.