New York. Auch bei den US Open setzt sich die Nummer eins der Tennis-Welt souverän gegen Taylor Fritz durch. Doch die Freude wird getrübt.
Als die US Open noch gar nicht begonnen hatten, ereignete sich der wahrscheinlich wichtigste Moment für den späteren Champion Jannik Sinner. Es war in der obligatorischen Pressekonferenz vor den New Yorker Grand Slam-Festspielen, als ein übereifriger Moderator die Nachfragen zu Sinners unklarer Dopingaffäre und seinen umstrittenen Freispruch abzuwürgen versuchte. Doch Sinner bremste den Aufpasser – und anschließend redete der junge Südtiroler über alles, was in den letzten Monaten passiert war und ihm auf dem Herzen lag. „Es tat gut, endlich darüber sprechen zu können“, sagte Sinner (23), „ich habe ein reines Gewissen. Es war wie eine Befreiung.“
Gut zwei Wochen später hatte Sinner dann eine noch viel größere Antwort gegeben, die Antwort auf die Frage, wie er mit allen Zweifeln und Selbstzweifeln rund um diese Offenen Amerikanischen Meisterschaften umgehen würde. Der Nummer 1-Spieler der Tenniswelt war nach einem brutal souveränen 6:3, 6:4, 7:5-Sieg über den Amerikaner Taylor Fritz auch die Nummer eins des schillernden Major-Spektakels im Big Apple, der kühle Partschreck für das versammelte Promiaufgebot um Megastar Taylor Swift, Dustin Hoffmann, Matthew McConaughey oder Tesla-Besitzer Elon Musk.
Tennis-Weltstar in Sorge um seine Tante
Es war allerdings auch für den bescheidenen Triumphator aus dem Pustertal kein Jubel-, Trubel- und Heiterkeitsmoment an diesem Septembersonntag in der Ashe-Arena, dem größten Tennisstadion der Welt. Nicht nur wegen der Dopingangelegenheit, über die Sinner sagte: „Das ist nicht verschwunden, es ist immer noch in meinem Kopf.“ Sondern auch wegen der Sorgen um seine schwer erkrankte Tante, die sich in jüngeren Jahren immer wieder um ihn gekümmert hatte, wenn die eigenen Eltern arbeiten mussten. Tennis sei nicht das „wahre Leben“, sagte Sinner fast ein wenig bedrückt über seine hektische Zeit im Wanderzirkus, das ewige Herumreisen, die Terminhatz durch Zeitzonen und über Kontinente hinweg, „ich würde lieber mehr Zeit mit Menschen verbringen, die mir wirklich etwas bedeuten.“
Wie sich Sinner in einer herausfordernden Lebenslage dennoch auf den Centre Courts in diesem Sommer behauptete, war in jedem Fall erstaunlich. Schon jetzt ist klar, dass der erste italienische US Open-Sieger ein gewichtiges Wörtchen in der Ära nach den Großen Drei spielen wird. Auch wenn Alexander Zverev aktuell auf Platz 2 der Weltrangliste rückte, sind Sinner und der Spanier Carlos Alcaraz doch die bestimmenden Erbfiguren, die prägenden Profis im Hier und Jetzt und wohl auch der Zukunft. Sinner hatte das erste und letzte Wort in diesem Grand Slam-Jahr 2024, als Sieger in Australien, nun in New York. Alcaraz gewann zwischendrin die Turniere in Paris und Wimbledon. Für die alten Machthaber wie Djokovic oder Nadal blieb nichts mehr, aber auch nicht für ehemals als Kronprinzen gehandelte Spieler wie Zverev, Medwedew oder Tsitsipas.
Sinner krönte seine überzeugende Spielserie nun vorerst mit dem New York-Coup, bei dem er seine Power und Präzision durchschlagend gegen den überforderten Lokalmatador Fritz einsetzte. Sinners „unerschütterlicher Glaube“ sei der Erfolgsfaktor gewesen, sagte TV-Experte Boris Becker, „ich kann nur staunen über seine mentale Stärke.“ Nur einmal, bei einem 3:5-Rückstand im dritten Satz, geriet der Südtiroler ganz kurz in Schwierigkeiten, holte sich dann aber in einem furiosen Schlußspurt die letzten vier Spiele und die Siegertrophäe nach nur 139 Minuten. Mitreißende Grand Slam-Finalatmosphäre war in der randvollen Arena so nie aufgekommen, Stimmungskiller Sinner hatte sein Werk planvoll zu Ende gebracht.
Jannik Sinner: Italiens beliebtester Sportler
„Wir haben den König“ titelte die „Gazetta dello Sport“ zu Sinners US Open-Sieg und nannte ihn, sicher keineswegs übertrieben, „Italiens beliebtesten Sportler“: „Er ist ein einfacher Junge wie der Freund von nebenan.“ Nur auf dem Centre Court gibt es keine Nettigkeiten vom Mann, der von seinen Fans auch der „Rote Baron“ genannt wird, seiner Haarfarbe wegen. 55:5-Siege lautet die Gewinn-/Verlustrechnung für Sinner mit Stichtag US Open-Finale, sechs Titel hat er gewonnen, genau wie Alcaraz. In der Weltrangliste aber steht er einsam an der Spitze, mit 11.180 Punkten hat er mehr als viertausend Zähler Vorsprung vor Zverev (7075). Sein New Yorker Finalgegner Fritz, der auf Platz 7 vorrückte, ist mit 4060 Punkten schon eine ganze Welt entfernt. So wie auch gerade im Endspielduell.