Turin. Der Italiener Jannik Sinner beendete bei der Tennis-WM in Turin die Siegesserie von Novak Djokovic. Der ist voll des Lobes.

Es war zwanzig Minuten nach Mitternacht, als Jannik Sinner (22) am ganz frühen Mittwochmorgen den Pala Alpitour in Turin in einen Zustand der Ekstase versetzte. Ein letztes Mal war der Lokalmatador in jenem Augenblick ans Netz vorgerückt, lässig und unerreichbar versenkte er einen Schmetterball im gegnerischen Feld – und dann war es unter ohrenbetäubendem Jubel geschafft: Der 7:5, 6:7, 7:6-Triumph über Nummer 1-Mann Novak Djokovic bei der Tennis-WM, das hart erkämpfte, hart herausgespielte Meisterstück vor den eigenen, aufgepeitschten Tennis-Tifosi, der bemerkenswerteste Sieg in Sinners zunehmend vielversprechender Karriere.

Erste Pleite für Djokovic nach 19 Siegen

Auch interessant

„Ein unglaubliches Erlebnis“ sei dieser Abend, dieses Match, dieser Erfolg, sagte Sinner. Und blieb sich in der Stunde der Genugtuung treu: Als Mann mit großen Ambitionen, großen Zielen, aber ohne großes Getue und Gehabe, ohne überflüssige Showeinlagen. Kurz huschte ein Strahlen über Sinners Gesicht, kurz riss er die Arme in die Höhe, dann war er schon wieder zurück in seiner Paraderolle als eher stiller Genießer. „Ihr habt mir zu diesem Sieg geholfen. Welch eine Nacht“, rief Sinner den Zuschauern noch zu nach seinem zweiten Gruppensieg, ehe er sich vom Schauplatz eines denkwürdigen Late-Night-Thrillers verabschiedete. Von seinem Konkurrenten Novak Djokovic, der nach einer 19 Matches währenden Siegesserie erstmals wieder als Verlierer vom Platz ging, erntete Sinner bedingungsloses Lob: „Er ist einer der Spieler der Stunde“, so der Djoker, „er hat diesen Sieg absolut verdient. Weil er mehr riskierte, mehr Courage zeigte.“

Sinner wird schon seit Teenagerzeiten als „das nächste große Ding“ im Welttennis gehandelt, ähnlich wie auch der aktuelle Wimbledon-Gewinner Carlos Alcaraz. Allerdings bremsten den jungen Burschen aus dem Südtiroler Pustertal zunächst die Wirrnisse der Corona-Spielzeiten und danach auch einige Verletzungs-Auszeiten. Doch 2023 scheint die Durchbruch-Saison für den ebenso dynamischen wie eleganten Youngster zu sein, gerade in den letzten Wochen profilierte sich Sinner durch serienweise Erfolge gegen Top Ten-Konkurrenz.

Sinners Stärken sind seine Ausgeglichenheit und die packende Entschlossenheit

Genau wie bei seinen kurz zurückliegenden Turniercoups in Peking und Wien zeigte Sinner auch gegen einen großen Meister wie Djokovic, was ihn im Hier und Jetzt auszeichnet: eine starke innere Balance und Gelassenheit in den herausfordernden Wechselfällen auf dem Centre Court und eine zupackende Entschlossenheit bei den Big Points. In jenen Situationen, in denen sich ein Match dreht und wendet. „Für mich ist das Wichtigste, dass ich ruhig, konzentriert und mutig auftrete. Ich will immer eine gewisse Ruhe ausstrahlen“, sagt Sinner. Anders als noch vor zwei, drei Jahren sucht Sinner nun selbst die Entscheidung, wenn es brenzlig wird – und wartet nicht auf Irrtümer des Gegners. Gegen Djokovic gelangen ihm 37 Siegschläge bei nur elf Fehlern.

Anerkennende Worte nach dem Match: Novak Djokovic (links) gratuliert Jannik Sinner.
Anerkennende Worte nach dem Match: Novak Djokovic (links) gratuliert Jannik Sinner. © AFP | TIZIANA FABI

Sinners Karriere folgte nicht den typischen Wegen, lange Zeit war sogar unklar, ob er sich überhaupt jemals dem Tennis verschreiben würde. Mit acht Jahren war Sinner italienischer Meister im Riesenslalom, er spielte in dieser Zeit auch noch leidenschaftlich Fußball. Aber dann entschied er sich doch für Tennis, „weil ich ganz allein meine Entscheidungen treffen wollte und musste. Und weil das Duell eins gegen eins mich mehr faszinierte.“

Tennis: Jannik Sinner erinnert an Roger Federer

Startrainer Riccardo Piatti wollte Sinner einst erst gar nicht in seine Akademie in Ligurien aufnehmen, weil der junge Kerl nichts an Titeln oder anderen Meriten vorzuweisen hatte. Dann spielte er, auch auf Empfehlung des früheren Profis Claudio Pistolesi, doch vor – und war sofort Akademie-Schüler. „Hätte ich ihn abgewiesen, wäre es der Fehler meines Lebens gewesen. Keiner ist in seinem Alter so weit gewesen wie er jetzt“, sagt Piatti. Schnell arrangierte Piatti für seinen Spitzenschüler dann auch Sparringspartner-Arrangements, nicht zuletzt mit Branchenführer Djokovic.

Sinner besticht durch seine Abgebrühtheit und eine schlichte Anmut in seinem Auftritt. Er macht keine überflüssigen Bewegungen, keinen Schritt zu viel oder zu wenig. Es gibt keine Theatralik, kein irgendwie exzentrisches Herumhampeln. Alles ist flüssig, sauber, klar. Selbst wenn Sinner Aggressivität in die Schläge legt, wenn er mutig ans Netz prescht, folgt die Power immer dem Primat der Präzision. Nicht wenige in der Branche vergleichen ihn mit Roger Federer, er selbst schüttelt da den Kopf und sagt: „Das ist doch nur Gerede.“ Am Sonntag winkt ihm der bedeutendste Titel seiner Laufbahn, der WM-Titel, noch dazu in der Heimat – mit 22 Jahren, so wie Federer 2003 in Houston.