Turin. Die Nummer eins der Tenniswelt erweist sich bei den ATP Finals als Spielverderber. Ans Aufhören denkt der 36-Jährige noch lange nicht.

Jim Courier ist kein Mann, der so schnell billige Komplimente verteilt. Courier war selbst die Nummer eins der Welt, ein unerbittlicher, extrem fitter Kämpfer. Viele Stars hat der 53 Jahre alte Amerikaner selbst kommen und gehen sehen, später dann als TV-Experte beobachtet und analysiert. Als Courier am späten Sonntagabend auf den frischgebackenen ATP-Weltmeister Novak Djokovic blickte, auf dessen Leistung beim 6:3, 6:3-Endspielsieg über Jannik Sinner, kam er zu einem knappen, denkwürdigen Urteil: „Niemals hat ein 36-Jähriger auch nur annähernd so gut Tennis gespielt wie Novak.“ Djokovic sei ein Phänomen, er werde nicht älter in seiner Rolle als Führungsfigur des Wanderzirkus, er wirke „jünger als jemals zuvor“.

Djokovic ist in der 400. Woche die Eins der Tenniswelt

Auch interessant

Wenn man auf die Saison 2023 zurückblickt, bleibt tatsächlich diese Feststellung: Dieses Jahr war aufs Neue überragend viel Djokovic, dann erst der Rest der Welt. Zwölfeinhalb Jahre nach seinem ersten Sprung auf den Ranglisten-Gipfel (4. Juli 2011) komplettierte der alterslose Capitano als Champion von Turin nun die sage und schreibe 400. Woche als Spitzenmann im Welttennis. „Es war eines der besten Jahre meiner Karriere, ich bin mächtig stolz auf das, was ich geschafft habe“, sagte Djokovic, nachdem der Konfettiregen nach dem Finalsieg in Turin über ihn gegangen war.

Ein paar Tränchen verdrückte der Djoker, als er seine Kinder Stefan und Tara sowie seine Ehefrau Jelena in die Arme schloss. Es sei immer ein „unheimlicher Antrieb“ gewesen, die großen Titel mit der Familie feiern zu können. Er stellte klar, dass diese Spielzeit noch keineswegs vorüber sei, schließlich sei da noch das Davis-Cup-Finalturnier in Malaga, bei dem er mit Team Serbien gewinnen wolle: „Wenn wir diesen Pokal holen, wäre es das beste Jahr überhaupt für mich.“

20 Jahre nachdem die Herrschaftsperiode der Großen Drei mit dem WM-Titel für Roger Federer in Houston begann, ist Djokovic zum Meister aller Klassen und Besitzer der meisten wichtigen Tennisrekorde geworden. Er beendete einst die Zweiteilung der Macht in seinem Sport, als Störenfried für das Duo Federer und Rafael Nadal. Ende 2023 beherrscht der nimmermüde Serbe das Tennis-Universum mit einer Unbarmherzigkeit, dass einem manche seiner Rivalen schon leidtun können. Djokovic ist ein noch größerer Spiel- und Spaßverderber für die Herausforderer, als es Federer und Nadal jemals waren.

Routinier Djokovic erteilt Supertalenten Alcaraz und Sinner Lehrstunden

Volle Konzentration: Novak Djokovic im Finale gegen Jannik Sinner.
Volle Konzentration: Novak Djokovic im Finale gegen Jannik Sinner. © Getty Images | Valerio Pennicino

Auf der Zielgeraden der WM erteilte er den 16 beziehungsweise 14 Jahre jüngeren Carlos Alcaraz (Spanien) und Jannik Sinner (Italien) beispiellose Lehrstunden im Halbfinale und Endspiel. Die beiden Youngster kamen zusammen auf gerade mal elf Spiele gegen Djokovic, der wie im Siegesrausch über den Centre Court fegte. Den „wahren Djokovic“ könne im Moment niemand aufhalten, konstatierte sein Trainer Goran Ivanisevic: „Es ist verrückt, was er leistet.“

Einen einzigen, natürlich nicht unwesentlichen Schönheitsfehler hatte das Jahr für Djokovic, die unglückliche Fünf-Satz-Niederlage im Wimbledon-Finale gegen Alcaraz. Doch wer danach weitere Indizien für eine Wachablösung oder einen Epochenwechsel suchte, ging leer aus. Djokovic verlor seit dem Scheitern auf dem Centre Court des All England Lawn Tennis Club kein weiteres Hopp oder Top-Spiel mehr, seine Vorrunden-Niederlage in Turin gegen Sinner blieb letztlich folgen- und wirkungslos.

Eines vor allem zeichnete Djokovic wieder einmal aus: der Mut, auch einmal für längere Zeit eine Auszeit vom Tourbetrieb zu nehmen, wieder Kräfte zu sammeln. So spielte er im Herbst, als sich viele Konkurrenten etwa bei der Asien-Tournee quälten, zunächst gar nicht. Gewann dann nach knapp zwei Monaten Pause erst das Paris-Masters, nun die WM. Und war bereit, noch beim Davis Cup mit genügend Energie zuzuschlagen.

Djokovic hat noch nicht genug von Rekorden

Auch interessant

Dass es ihm in den späten Jahren seiner Karriere vor allem darum gehe, die Rekorde weiter auszubauen und auf schier unerreichbare Marken zu schrauben, daraus hat Djokovic nie einen Hehl gemacht. Bei diesem Ziel ist er 2023 ein gutes Stückchen voran gekommen, der Rekord an Grand Slam-Titeln steht augenblicklich bei 24 Siegen, bei den ATP Finals nun bei sieben Triumphen, bei den Australian Open (Djokovics Lieblingsturnier) auf zehn Erfolgen und bei den regulären Masters-Events auf 40 Titeln. Ein Ende der Rekordjagd ist noch nicht in Sicht: Wie der ewige Djoker, der das letzte drohende Wort in Turin hatte, sagte: „Es gibt keinen Grund für mich, so bald aufzuhören.“