Paris. China kann bei Olympia 2024 in Paris als erste Nation alle Wettbewerbe im Wasserspringen gewinnen. Dahinter steckt ein extremes System.
Den Unterschied erkennt man, wenn es platscht. Platschen ist beim Wasserspringen nie ein gutes Zeichen. Ein paar Tröpfchen nach dem Eintauchen wären ideal, saftige Spritzer sind es nicht. Wenn man sieht, wie sich die Athletinnen und Athleten vom Turm oder Brett in die Höhe schrauben, ihren Körper kraftvoll um sich selbst drehen und dann präzise eintauchen, denkt man schnell: Viel weniger Spritzer gehen nicht. Doch dann kommen die Chinesen.
Das Wasser zeigt sich so unbeeindruckt von ihrem Eintauchen wie sie selbst von höchsten Schwierigkeitsgraden bei ihren Darbietungen. Im Wasserspringen, das wird bei den Olympischen Spiele in Paris offensichtlich, ist China das Nonplusultra. „Es ist schon seit einigen Olympiazyklen so: In Einzelwettbewerben ist Gold und Silber eigentlich immer schon weg, der Rest der Welt kämpft um Bronze“, sagt Christoph Bohm, Chefbundestrainer der deutschen Wasserspringer. „Im Synchronspringen gibt es immerhin noch zwei Medaillen zu vergeben.“ Dort startet pro Nation nur ein Pärchen.
China zeigt Schwächen wenn nur im Training
Thomas Daley (30) hat versucht, die große Macht im Synchronspringen vom Turm zum Wackeln zu bringen. Doch am Ende war Gold 30 Punkte entfernt, mit Partner Noah Williams gewann er Silber. „Sie waren nahezu makellos, was erstaunlich war. Man weiß nie genau, wie sie es machen“, sagt der Olympiasieger von Tokio. Im Training hätte er sogar Schwächen beobachtet. „Aber dann schalten sie einfach um.“
China hat bei diesen Spielen nach sechs von acht Entscheidungen bereits acht Medaillen gewonnen – sechsmal Gold, versteht sich. Ihnen ist zuzutrauen, am Ende der Spiele in allen Wettbewerben ganz oben zu stehen. Das hat im Wasserspringen bei Olympia noch keine Nation zuvor geschafft.
Statt Eisessen nur Autofahren in der Garage
Christoph Bohm würde das nicht überraschen: „Die zwei Disziplinen, in denen sie gewackelt haben, sind schon durch. Und auch da haben sie abgeliefert: wie ein Uhrwerk, mit einer unglaublichen Nervenstärke.“ Als frustrierend empfindet er die Dominanz der Chinesen nicht – auch, weil sie sich erklären lässt.
Wasserspringen ist in China neben Tischtennis und Badminton Volkssport. Die Begeisterung ist riesig: Kommen zu Wettkämpfen in Deutschland rund 500 Zuschauer, sind es in China bis zu 20.000. „Ein Olympiasieg hat dort einen riesigen Stellenwert. Dann hast du ausgesorgt für die ganze Familie.“ Für den Erfolg investiert der Staat enorm. In Deutschland gebe es fünf wettkampffähige Hallen, in China seien es in vielen Städten gleich mehrere. „Hinzu kommt die Masse an Menschen – im Bereich der Betreuer, aber auch der Athleten.“ 1,412 Milliarden Menschen leben in China – nur die Allerbesten werden vom System nach oben gespült, die Fluktuation ist hoch. Christoph Bohm würde in diesem System nicht arbeiten wollen: „Der Druck ist immens.“
Das sieht auch der deutsche Synchronspringer Timo Barthel so. Mit Jaden Eikermann (19) belegte er im Turm-Synchronspringen Platz sieben. „Die leben zu viert auf einem Zimmer im Internat, die trainieren zwölf Stunden, die kennen nichts anderes außer Wasserspringen“, sagt der Aachener. „Wenn die ein bisschen Autofahren wollen, gehen die in die Garage und fahren da eine Runde Auto. Die haben kein Privatleben, keine Freundin, können nicht rausgehen, Eis essen, ins Restaurant. Teilweise sehen die ihre Familien drei Jahre nicht.“ Das sei der Unterschied zwischen der außerirdischen Leistung und der aller anderen. „Die Frage ist: Will man das so?“
Verhalten der Chinesen ist offener geworden
Die chinesischen Sportler, die es im Wasserspringen schaffen wollen, haben keine Wahl. „Der Druck ist immer groß“, sagt Synchron-Olympiasieger Lian Junjie. Er sei erleichtert, dass es mit Gold vom Turm geklappt habe. Er könne jetzt endlich lachen. Obwohl sie springen wie Maschinen, sind auch sie nur Menschen. Und so zeigen sie sich mittlerweile auch.
Gelegentlich sieht man sie im Austausch mit Athleten anderer Nationen. Auch Emotionen sind vom System durchaus erwünscht – es kommt in der Welt besser an. „Das Verhalten hat sich schon verändert, sie geben sich offener“, sagt Bohm. Viele verstünden zwar kein Englisch, aber nonverbal oder mit Dolmetschern funktioniere das. „Dass sie sich freuen, Jubel und positive Emotionen zeigen“, sei schon anders geworden. Wie sie sich im Fall einer Enttäuschung verhalten? „Das kam ja bisher eher nicht vor“, sagt Bohm und lacht.
Der 40-Jährige kann sich nicht vorstellen, dass die Dominanz so bald endet. Aber er will es auch nicht verfluchen: „Es macht ja Spaß, ihnen zuzusehen. Sie zeigen eine Eleganz und Perfektion, da bekommt man Gänsehaut. Danach streben alle in unserem Sport.“