Essen. Was der Redaktion auffiel: Gute, schlechte und außergewöhnliche Momente bei der TV-Berichterstattung aus Studios und Stadien bei der EM 2024.
So viele Fernsehbilder gab es von einer EM noch nie: Noch nie haben so viele Sender und Streamingdienste das Turnier, an dem zum dritten Mal 24 Mannschaften teilnahmen, übertragen. Es gab also viel zu gucken: einige Höhepunkte, manche skurrile Szenen, einige Aussetzer. Zehn TV-Momente, die der Redaktion in vier Wochen aufgefallen sind.
RTL- und Magenta-Kommentator Wolff-Christoph Fuss ist anstrengend
Jeder hat vermutlich diesen einen Nachbarn, der das Gespräch im Treppenhaus mit seiner ganz eigenen Grußformel beginnt. „Haben Sie das gesehen? So geht es wirklich nicht.“ Der Kopf rot, die Stimme besonders deutlich betont. Der Wille, nicht gleich los zu brüllen, ist immerhin erkennbar. Wolff-Christoph Fuss ist auch so ein Nachbar, der lauert einem nicht im Treppenhaus auf, sondern im Fernsehgerät. Heimlich hat man ja gehofft, dass der Sky-Mann in Sommerurlaub gefahren ist. Pustekuchen. Das Problem. Der Mann kennt sich beim Fußball ja wirklich aus. Dass er aber schon bei der Ausführung des Anstoßes ein Erregungsniveau erreicht, als habe gerade aus dem Hintergrund Rahn geschossen, macht das TV-Erlebnis bei Magenta und RTL mitunter anstrengend.
Ein wahrhafter TV-Moment bei der EM 2024
Tapfer steht sie vor dem Stadion, diese namenlose junge Frau. In ihrer Hand ein Mikro, um sie herum Fans, schottische, niederländische, deutsche. Eines haben sie gemeinsam. Laut sind sie – und aufgeregt, dass sie mal ins Fernsehen kommen. Das schreien sie heraus, fröhlich – das Spiel beginnt ja erst noch – und unverständlich. Fremde Sprache, günstiges Bier und so.
Die junge Frau: Natürlich wird sie einen Namen haben, aber der geht genauso unter wie der Sinn ihres Auftritts. Ihr TV-Sender will aus dem bequemen TV-Studio heraus Nähe demonstrieren: „Näher dran geht nicht“, ist schließlich ein im Sportjournalismus gerne verwendeter Werbeslogan. Also muss eine junge Frau mit Mikro sehr viel Nähe aushalten. Nicht immer gelingt es ihr, tapfer das zementierte Lächeln im Gesicht zu halten. Damit immerhin schafft sie einen wahrhaftigen TV-Moment.
Reichlich Prominenz beim Streamingdienst Magenta TV
Bei diesem Aufgebot konnte nicht viel schiefgehen. Für die EM hatte sich der Streamingdienst Magenta TV mit reichlich Prominenz aus der TV- und Fußball-Branche gerüstet. Lothar Matthäus, Michael Ballack, Robin Gosens, Owen Hargreaves, Laura Wontorra: wohl dem, der so eine Mannschaft stellen kann. Auch die in Katar überzeugende Tabea Kemme zeigte erneut, dass sie zu den Besten ihres Fachs gehört. Mit Gosens gelang Magenta der größte Coup. Im Oktober trug er noch das DFB-Trikot, bei der EM analysierte er Spiele und bewies auch dabei großes Talent.
EM 2024: Ein Sender-Wirr-Warr
Deutschland, ein Sommermärchen? Bei der WM 2006 hat das sportlich am Ende genauso wenig geklappt wie bei der EM 2024. Eine Sache war aber auf jeden Fall besser: Der Griff zur Fernbedienung versprach immer, am Ende auch das laufende Spiel zu sehen. Und sei es Iran gegen Angola gewesen. Bei dieser EM ist das nicht mehr so. ARD? ZDF? RTL? MagentaTV? Nicht nur, dass es bei diesem Senderchaos schwer ist, den Überblick zu behalten. Fünf Spiele waren gar nur exklusiv bei MagentaTV zu sehen. Das widerspricht dem Geist des Turniers, das Menschen vieler Nationen zusammenführen und ein Fußballfest für alle sein soll. Schade.
Debatte über Belehrung und Spracherziehung beim ZDF
Elf Sekunden benötigte ZDF-Moderator Jochen Breyer, um eine deutschlandweite Debatte loszutreten. Der Grund: Er ermahnte die Experten Christoph Kramer und Per Mertesacker, nicht mehr von “Spielermaterial” zu sprechen. Kramer quittierte das mit einem belustigt-ironischen “okay”, im Netz entbrannte eine Debatte über Belehrung und Spracherziehung. Niclas Füllkrug finde den Begriff “gar nicht so schlimm”, sagte er. Das Ende vom Lied: Kramer sprach Tage später erneut von Spielermaterial. Die Debatte war da aber schon wieder ad acta gelegt. Dabei möge es bleiben.
Ballermann in der Hosentasche
Das Telefon explodiert. Nicht wirklich, natürlich. Aber so sagt man das wohl, wenn die sozialen Medien über Millionen Handys ein Thema in die kollektive Wahrnehmung schleudern. Häufig liegt das irgendwo zwischen Schmutz, Schund und politischer Propaganda. Die fröhlich gekrähte Aufforderung „Nach links, nach rechts“ leitete mehr oder weniger lange Videoschnipsel mit fröhlich hüpfenden Niederländern ein, die allem Ballermann-Charme zum Trotz beste Laune verbreiteten. Ein sehr großer kleiner Fernsehmoment.
Christoph Kramer - ein Naturtalent
Eigentlich sah Christoph Kramer, 33, im TV-Studio immer so aus, als würde er es sich gerade in einem Café gemütlich machen und ein bisschen über Fußball plaudern. Ein schlichtes Shirt hatte er an, eine Jeans, manchmal ein offenes Hemd. Zurückgelehnt saß er da, die Beine über Kreuz. Der Spieler von Borussia Mönchengladbach besitzt die Gabe, dass er lässig daher reden kann, dabei aber fundiertes Wissen weitergibt. Gewitztheit vermischt er mit Anspruch. Ein Naturtalent, das nach der Karriere, die sich langsam dem Ende entgegenneigt, hoffentlich weiterhin im TV zu sehen sein wird.
Almuth Schult und Co. überzeugen, Claudia Neumann und Christina Graf nicht
Egal, welche Partie auf welchem Sender man verfolgte: Expertinnen und Kommentatorinnen begrüßten die Zusehenden mit tiefgehenden Analysen und kecken Sprüchen. Die ehemalige Nationaltorhüterin Almuth Schult fing ihre männlichen Kollegen oft in der Live-Reportage auf, im ZDF-Studio begeisterten Nationalspielerin Laura Freigang und Trainerin Friederike Kromp. Frauen bekommen endlichen ihren Platz im Männerfußball. Aber Frauen-Power ist nicht alles, das machte diese EM auch deutlich. Immer wieder lagen etwa Claudia Neumann und Christina Graf in ihren Kommentaren daneben.
Anbiederung beim DFB
Eins einte alle übertragenden TV-Sender dieser Europameisterschaft: Im Fokus stand immer und stets die DFB-Mannschaft. Selbst, wenn die Mannschaft nicht spielte. So weit, so gut. Doch die Anbiederung beim DFB, die vermeintliche Nähe zu den Spielern durch Ansprache mit den Spitznamen - all das muss nicht sein. Die Objektivität ging einigen, ob Moderator oder Kommentatorin, während der dreiwöchigen deutschen EM-Reise verloren zu gehen. Eigentlich fehlte nur noch, dass aus dem DFB-Quartier in Herzogenaurauch im DFB-Trikot moderiert worden wäre.
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Zwischen Genie und Wahnsinn
Es soll ja Lastwagenfahrer geben, die auf der Strecke das Notebook aufklappen und nebenbei EM-Spiele schauen. Die Kundschaft wartet schließlich auf die Lieferung. Alle anderen sind mit dem guten alten Radio bestens bedient. Der ARD-Hörfunk schafft es seit Jahrzehnten und auch jetzt wieder, das volle Spektrum zwischen Gala und Grottenkick zu präsentieren? Das ist oft genial. Weshalb der WDR seine extramüden Hörer mit dem platten Gewinnspiel „Spieler oder Speise?“ malträtiert, erschließt sich dem erwachenden Gehirn nicht vollständig. Vermutlich hat sich den Wahnsinn jemand aus der Abteilung „Audience Development“ ausgedacht, um Hörer an den Sender zu binden. Das funktioniert. Nur an den Morgenmuffel denkt wieder keiner.