Berlin. Neben Lamine Yamal haben die Spanier ein weiteres Juwel, das überzeugt: Nico Williams. Seine Familiengeschichte ist herzzerreißend.
Iñaki Williams erinnert sich noch, wie sein jüngerer Bruder Nico ihm das erste Mal die Leviten las. In einem wichtigen Jugendmatch für eine Regionalauswahl hatte er eine entscheidende Torchance vergeben. „Nico sagte mir, dass meine Ballannahme nicht ganz sauber gewesen sei und ich deshalb nicht getroffen hätte. Ich dachte mir: ‚Verdammt, was redet dieses Kind da’.“ Nico Williams war sechs Jahre alt.
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Heute ist Nico 21, und längst wird sein eigenes Spiel in allen Einzelheiten analysiert. Vor Spaniens Achtelfinale morgen gegen Georgien gehörte der neun Jahre jüngere der Williams-Brüder zu den Stars einer stararmen EM-Gruppenphase. Bei seiner Gala im Italien-Match war der Gegner noch gar nicht richtig am Ball gewesen, da hatte er auf Linksaußen schon sein erstes Dribbling gewonnen, die erste Torchance vorbereitet und damit den Ton gesetzt. Mit Tempo, Wendigkeit und Phantasie düpierte er fortan die italienische Abwehr und behauptete wie auf der anderen Seite sein kongenialer Partner Lamine Yamal auch auf engstem Raum das Spielgerät. Am Ende gab es die Auszeichnung zum Man of the Match, eine Standing Ovation seiner Teamkollegen in der Kabine und eine Glückwunschbotschaft des Bruders: „Du hast den Namen Williams in die Fußballwelt getragen.“
Nico Williams‘ besonderes Verhältnis zu seinem Bruder Iñaki
Das war sehr bescheiden, denn Iñaki ist selbst kein unbeschriebenes Blatt. Der Mittelstürmer hat mit 251 Ligapartien in Serie ohne Fehlzeiten für Athletic Bilbao zwischen 2016 und 2023 einen ungewöhnlichen Rekord aufgestellt und schon hundert Tore für den baskischen Traditionsklub erzielt. Auf Länderebene entschied er sich aber für Ghana, das Geburtsland seiner Eltern – weil es der Großvater so wollte, aber auch weil Spanien sich nie genug für ihn interessierte. Bei Nico war das anders; aber über den sagten die Trainer auch schon in der Jugend von Athletic: Der wird noch besser als sein Bruder.
Die Brüder sind eng miteinander, sehr eng, das hat mit der Familiengeschichte zu tun. Als Nico in der semibaskischen Region Navarra geboren wurde, lebte der Vater wegen der besseren Arbeitschancen in England und machte die Mutter mehrere Jobs gleichzeitig, um die Kinder durchzubringen. Also zog Iñaki seinen kleinen Bruder auf. „Ich bin wie ein Vater für ihn“, sagt er. Erst als er mit 18 fest zu Athletic wechselte, ließ er Nico zurück, allein oder bei der Nachbarin, aber nicht für lang. Von seinem ersten Profigehalt kaufte Iñaki eine Wohnung, in der er die ganze Familie in Bilbao vereinte. „Ich entschied, dass mein Bruder seinen Vater haben sollte und meine Mutter ihren Mann.“
Assists als Spezialität, Torriecher noch ausbaufähig
Die Geschichte der Williams ist herzzerreißend. 1993 verließen Vater und Mutter die ghanaische Hauptstadt Accra mit dem Ziel Europa; sie war schwanger, ohne es zu wissen, sonst wäre sie nicht los. Zu Fuß und auf Schlepperlastwägen ging es durch die Sahara, wer Pech hatte, wurde zurückgelassen, die Schwachen starben. Nico erinnerte sich kürzlich, wie die Familie in einem Dubai-Urlaub vor ein paar Jahren einen Motorradausflug in die Wüste unternahm. „Es sollte lustig werden, aber als meine Mutter den Sand betrat, kamen ihr die Erinnerungen hoch, und sie begann zu weinen.“ Die Eltern haben bis heute taube Fußsohlen, verbrannt während der Märsche barfuß durch die Wüste.
In Nordafrika stiegen sie über den Grenzzaun der spanischen Enklave Melilla, wie viele andere wurden sie festgenommen und sollten zurückgeschickt werden. Auf Ratschlag eines Anwalts der Caritas gaben sie an, aus Liberia zu kommen, einem Kriegsland, das war ein Asylgrund. Sie landeten schließlich in Bilbao, wo sich ein Pfarrer namens Iñaki der Familie annahm. Zu seinen Ehren erhielt der bald geborene Sohn seinen sehr baskischen Namen, und der Pfarrer war es auch, der ihm die Liebe zu Athletic einhauchte.
Diese Saison nun führten die beiden Brüder den Verein, der bis heute nur mit (Fußball-) Basken spielt, zum spanischen Pokalsieg – Athletics ersehntem ersten Titel seit 40 Jahren. Nico Williams wurde zum besten Spieler des Finals ernannt, er hatte Bilbaos Tor vorbereitet. Assists sind seine Spezialität, mit der Chancenverwertung tut er sich dagegen noch schwer. Seine Bilanz von 20 Toren in 122 Partien für Athletic ist ebenso verbesserungswürdig wie die von zwei Toren in 16 Länderspielen, und gegen Italien vergab er auf fast unerklärliche Weise einen Kopfball aus nächster Nähe, ehe er später bei einem wunderbaren Lattenschuss auch Pech hatte. Das mit dem Toreschießen ist eben doch nicht so einfach, wie es sich der sechsjährige Nico damals vorstellte.