Iserlohn. Italiens Trainer Luciano Spalletti hadert mit seinem Team. „Squadra Azzurra“ droht nach Pleite gegen Spanien ein frühes EM-Aus.

Es wäre nur menschlich, wenn Luciano Spalletti in diesen Tagen manchmal an sein Weingut in den Hügeln von Montaione denkt, wenn er sich den Überlegungen hingeben würde, wie gut er es dort hätte in diesen frühen Sommertagen. Eigentlich sah die Lebensplanung des italienischen Nationaltrainers ja vor, ein Sabbatical auf seinem Anwesen zu verbringen, wo er ein paar Alpakas hält und seinen Rocca di Ribano aus Sangiovese-Trauben produziert. Vor einem Jahr war Spalletti als Trainer SSC Neapel italienischer Meister geworden, mit einem Offensivstil, für den der Name „Spallettismo“ kreiert wurde. Es war sein erster großer Titel, eine Art Krönung einer langen Laufbahn, er hatte sich eine Pause verdient. Doch statt die liebliche Schönheit seiner Heimat zu genießen, sitzt Spalletti nun im oftmals regnerischen Iserlohn und muss mit seinem Zweifeln kämpfen.

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Im Spiel gegen Kroatien am Montagabend droht dem Titelverteidiger ein frühes EM aus, nachdem die Mannschaft am vergangenen Donnerstag von den Spaniern geradezu demontiert worden war. „Diese Art von Fußball gefällt mir nicht, sie liegt mir nicht“, sagte er nach der 0:1-Niederlage, die zwar knapp war, aber einen gigantischen Qualitätsunterschied sichtbar machte. Weil die Italiener ängstlich, kraft- und konzeptlos gespielt hatten. „Ich will auf keinen Fall, dass sich Italien in diese Richtung entwickelt. Auch weil ich diese Art von Fußball nicht beibringen kann, ich bin da nicht der geeignete Trainer für die diesen Spielstil“, sagte Spalletti.

Italien Federico Chiesa im Zweikampf gegen Spaniens Aymeric Laporte.
Italien Federico Chiesa im Zweikampf gegen Spaniens Aymeric Laporte. © Jan Fromme / firo Sportphoto | Jan Fromme

Italien: Eine Mannschaft, die sich im Umbruch befindet

Das klingt nach bedenklichen Entfremdungstendenzen, dabei hatte die Mission des 65 Jahre alten Trainers eigentlich recht vielversprechend begonnen. Seine Bilanz bis zur Demontage von Gelsenkirchen: sieben Siege, drei Unentschieden, eine Niederlage und eine erfolgreiche EM-Qualifikation mit einer Mannschaft im Umbruch. Etliche Spieler, die 2021 Europameister wurden, sind zurückgetreten, die WM 2022 wurde verpasst und im vergangenen Jahr hatte Roberto Mancini seinen Posten als Nationaltrainer aufgegeben, um dem Ruf der Petrodollars nach Saudi-Arabien zu folgen. Also beendete Spalletti sein Erholungsjahr nach wenigen Wochen, um sich im September auf eine Art Rettungsmission zu begeben.

Er sollte nicht nur die ernsthaft gefährdete Qualifikation zur EM vollenden, sondern möglichst auch noch den etwas angestaubten Nationalmannschaftsfußball modernisieren. „Spanien hat eine Identität, weil es eine Grundidee beibehalten hat“, hatte Spalletti noch vor dem Duell gegen die Spanier gesagt. „Wir müssen es wie Spanien machen und ein ums andere Mal mit unserer Philosophie spielen“. Vielleicht hat er sich zu viel vorgenommen mit dem Vorhaben, innerhalb von neun Monaten mit einer über Generationen gewachsenen Fußballkultur zu brechen. „Als ich zu trainieren begann, sagte man mir, dass Gewinnen zählt“, erklärte Spalletti nach Italiens ordentlichem Auftritt gegen Albanien zum EM-Auftakt. So lautet die uralte Grundidee des Calcio, wo die Kunst des Verteidigens mehr Wertschätzung genießt als in allen anderen großen Fußballnationen dieser Welt. Spalletti hat schon immer anders gedacht: „Aber nein, was zählt ist, gut zu spielen. Um eine Chance auf den EM-Titel zu haben, müssen wir erst einmal guten Fußball spielen.“

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Jürgen Klopp und Pep Guardiola: Spalletti studiert ihre Spielansätze

Dazu hat er die Spielansätze von Jürgen Klopp und Pep Guardiola studiert, deren Gemeinsamkeit bei allen Unterschieden in der Erzeugung von Dominanz durch eine mutige Grundhaltung liegt. Der SSC Neapel spielte tatsächlich einen flexiblen Fußball mit Elementen sowohl von Klopp als auch von Guardiola. Er wünsche sich „fließende Übergänge“ hat Spalletti vor der EM in einem Interview mit „Uefa.com“ gesagt, „es gibt nicht mehr dieses starre, leicht wieder erkennbare Ding früherer Zeiten. Es ist jetzt viel kreativer.“

Ein Titelsammler wie die beiden Startrainer, an denen er sich orientiert, ist Spalletti allerdings nie gewesen. Mit der AS Rom und Inter Mailand scheiterte er tragisch in der Meisterschaft und musste sich dafür von José Mourinho mit dem viel zitierten Ausspruch „Zero tituli“ verspotten lassen. Erst der Meistertitel mit Neapel hat ihn befreit und ihm eine neue Glaubwürdigkeit verschafft. „Seine Anwesenheit ist das, was mich am meisten beruhigt, er ist der richtige Mann am richtigen Ort“, sagte jüngst der legendäre Trainer Arrigo Sacchi, der Italiens Fußball in den späten 80er und frühen 90er Jahren mit seinen Innovationen inspirierte.

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Sieg gegen Kroatien könnte Italien ins Achtelfinale bringen

In Sacchis Worten schwingen eher Zweifel an der Qualität des Kaders als am Trainer mit, vielleicht ist das Nationalteam ohne echten Weltklassespieler tatsächlich noch nicht reif für den radikalen Stilbruch. Wobei Spalletti sich unter dem Eindruck der totalen spanischen Überlegenheit vielleicht auch ein wenig zu drastisch von seinem Team distanziert hat. „Ich bin alt genug, dass ich die Achterbahnfahrten im Fußball kenne“, sagte er einmal, es geht eben immer auch schnell wieder nach oben. Sollten die Italiener mit einem Erfolg gegen Kroatien das Achtelfinale erreichen, ist diese EM ganz bestimmt doch wieder attraktiver als jede Aussicht auf ruhige Tage in den Hügeln der Toskana.