Gelsenkirchen. Italien gegen Spanien war jahrelang ein Kampf der Systeme. Vor dem Duell bei der EM 2024 aber werden sich die Rivalen immer ähnlicher.
Wie üblich sparten die Zeitungen nicht an martialischen Schlagzeilen. „Der geliebte Feind“ titelte etwa das italienische Blatt Tuttosport vor dem Europameisterschaftsspiel der Squadra Azzurra gegen Spanien am Donnerstag (21 Uhr/ZDF und Magenta) in Gelsenkirchen, dem auf dem Papier hochkarätigsten Gruppenspiel bei diesem Turnier.
Gemeint war damit in allererster Linie Alvaro Morata, der Mittelstürmer der Spanier, der eine komplizierte Beziehung zu Italien hat: Einerseits spielte er 2014 bis 2016 und von 2020 bis 2022 recht erfolgreich für Juventus Turin. Andererseits stand er mit Spanien in großen Turnieren zweimal den Italienern gegenüber und scheiterte bei der EM 2016 (0:2 im Achtelfinale) wie auch bei der EM 2021 – und da auf besonders bittere Weise: Im Halbfinale in Wembley wurde Morata eingewechselt, traf in der 80. Minute zum 1:1, doch im Elfmeterschießen versagten ihm die Nerven.
Morata wurde zum Buhmann, bekam Hassnachrichten, musste sich bei Länderspielen immer wieder Pfiffe anhören. Man hatte es in den vergangenen Jahren nicht immer leicht als Mittelstürmer in Spanien, erst recht nicht als 1,90 Meter großer und eher kantiger Spielertyp wie Morata. Im Land des Tiki-Taka, der endlosen Ballzirkulation, misstraute man Spielern, die sich vor allem als Vollstrecker verstehen und nicht zu gebrauchen sind für die ausufernden Passstafetten.
Spaniens neuer Trainer Luis de la Fuente versprach neue Konzepte
Aber die Zeiten ändern sich. Der 31-jährige Morata ist inzwischen Kapitän der spanischen Auswahl und längst kein Fremdkörper mehr, sondern, wenn man so will, ein Gesicht des Wandels. Als Nationaltrainer Luis de la Fuente, 62, nach der WM 2022 sein Amt antrat, versprach der langjährige Verbandstrainer „neue Konzepte“ für die A-Nationalelf.
Bei den Fans traf er damit einen Nerv. Die Spanier hatten sich im Achtelfinale gegen Marokko aus dem Turnier gekreiselt. Wie schon vier Jahre zuvor in derselben Runde gegen Russland spielten sie in diesem Match über tausend Pässe, produzierten aber damit kaum klare Torchancen. Beide Male gab es letztlich ein Remis – und das Aus im Elfmeterschießen.
Erstmals seit 111 Länderspielen hatte Spanien weniger Ballbesitz
Diesen Samstag in de la Fuentes erstem großen Turniermatch spielte Spanien nur 455 Pässe, deutlich weniger als Rivale Kroatien. Erstmals seit 111 Länderspielen und einem 0:1 gegen den damaligen Weltmeister Deutschland 2014 in Vigo hatte es auch weniger Ballbesitz als der Gegner. Zwar mochte der Spielverlauf eine Rolle spielen – die Kroaten mussten 60 Minuten lang gegen einen Rückstand ankämpfen. Doch nach einem 3:0-Erfolg waren solche Statistiken sowieso für niemanden ein Sakrileg.
De la Fuente nutzte die Unterschiedlichkeit der drei spanischen Treffer – einer nach einem Steilpass, einer nach einer Kombination am Strafraum, einer nach einer Flanke – zu kaum verhohlenem Selbstlob und erklärte das Resultat zu einer Art Manifest. „In anderen Zeiten garantierte Ballbesitz vielleicht bessere Resultate“, sagte er. Aber jetzt gehörten auch Konter und Tempo zur Identität der „selección“. „Dieses Spanien kann seine Register wechseln, und in dieser Varietät liegt unsere Kraft.“ Etwas mehr Italien wagen, so könnte die Überschrift dafür lauten.
Spaniens Ballbesitzfußball darf als beerdigt gelten
Man muss die Zeitenwende nicht übertreiben: Spaniens Fußball wird weiterhin mehr auf Technik als auf Physis basieren, das ist schon in der Ausbildung und in den Jugendnationalmannschaften so. Auch die aktuelle A-Elf kann bei Bedarf nach wie vor mit langen Passstafetten das Spiel beruhigen. Doch in seiner extremen – und glanzvollsten – Ausformung darf das Tiki-Taka als beerdigt gelten.
Seine Triumphe bei EM 2008, WM 2010 und EM 2012 ereigneten sich parallel zur Dominanz des FC Barcelona und waren eng mit dessen Mittelfeldstars Xavi, Iniesta und Sergio Busquets verbunden. Aber so außergewöhnliche Ballverteiler sind nicht beliebig reproduzierbar. Inzwischen dominiert die Szenerie im Klubfußball wieder Real Madrid, ein pragmatisches Team – wie es nun auch die spanische Nationalelf ist.
Italien zeigte gegen Albanien Ansätze von Tiki-Taka
Und als welches Italien seit jeher gilt, meisterhaft vorgeführt beim EM-Titel 2021, als eine Abwehr voller schlachtenerprobter Veteranen dafür sorgte, dass die Mannschaft mit maximalem Minimalismus durchs Turnier kam: drei von sieben Spielen gewann sie mit nur einem Tor Differenz, zwei weitere, nämlich Halbfinale und Finale, erst im Elfmeterschießen.
Wer aber die Italiener im ersten Gruppenspiel gegen Albanien (2:1) sah, der erkannte zumindest in der ersten Halbzeit vieles, was man eigentlich bei den Spaniern vermuten würde: kluges Positionsspiel, geduldige Passstafetten, das Suchen und Bespielen der Zwischenräume. Alles sehr geduldig, im Zweifel ging es lieber noch einmal hintenherum, als mit einem unüberlegten Pass in den Strafraum den Ball zu verlieren. Etwas mehr Spanien wagen.
Nicolo Barella wird mit Italiens Legenden Pirlo und Gattuso verglichen
Prägend dafür der Spieler, um den die Squadra lange gebangt hatte, der aber rechtzeitig zum Turnier fit geworden war: Nicolo Barella. Der 27-Jährige war das Hirn in Italiens Mittelfeld, er spielte in 89 Minuten 105 erfolgreiche Pässe, hatte insgesamt 117 Ballaktionen. „Barella ist Pirlo plus Gattuso“, schwärmte der Corriere dello Sport in Erinnerung an zwei Legenden des italienischen Fußballs.
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Der ballbesitzbasierte Ansatz der Italiener, das Tiki-Taka light, entsprang auch der Not: Einen Mittelstürmer von internationalem Format haben sie aktuell nicht, der eingebürgerte Argentinier Mateo Retegui überzeugte zuletzt nicht, Gianluca Scamacca blieb beim 2:1 gegen Albanien blass. Es war also auch eine pragmatische Entscheidung, vom reinen Pragmatismus als Spielprinzip abzuweichen. Solche Sorgen müssen sich die Spanier nicht machen – sie haben ja den ewigen Morata.