Dortmund. Die türkische Nationalmannschaft hat Georgien 3:1 besiegt. Die Begegnung im Dortmunder Stadion war keine gewöhnliche. Im Gegenteil.

Gerade noch hatten Pyrofackeln gebrannt, ihr Nebel zog durch das Stadion, immer noch fiel leichter Regen, und man konnte erleben, was der Fußball auslösen kann: Euphorie, Wut, Tränen. Das Gruppenspiel zwischen der Türkei und Georgien, das mit einem 3:1-Sieg der türkischen Mannschaft endete, war keine gewöhnliche Begegnung bei dieser Europameisterschaft, sondern ein mit Emotionen vollgequetschtes Duell.

Und dann noch dieser Regen.

Das Dortmunder Stadion hat schon viel erlebt, Platzstürme, Dramen, aber so viel Wasser wie am Dienstag vielleicht noch nie. Mehrere Wasserfälle hatten sich vor dem Anpfiff gebildet, sie schossen von den Stadiondächern, eifrige Ordner benutzten große Besen und, ja wirklich, Holzlatten, um die nicht enden wollende Flüssigkeit in die offenen Gullydeckel neben dem Platz zu schieben.

All das erhitzte die ohnehin aufgeladene Stimmung noch ein wenig mehr; Zehntausende türkische Fans hatten sich aufgemacht zu dem Spielort, an dem normalerweise Borussia Dortmund um Punkte kämpft. Die Südtribüne erstrahlte diesmal nicht in Schwarz-Gelb, sondern in Rot. Auf den Plätzen lagen Türkei-Fahnen, vor der berühmten Tribüne standen Trommler, umhüllt von Regencapes, um den Takt für die lauten „Oh, Türkiye“-Rufe vorzugeben.

Zum Verzweifeln: Georgien erzielt zwar das erste Tor ihrer noch kurzen EM-Karriere, muss sich dennoch am Ende geschlagen geben.
Zum Verzweifeln: Georgien erzielt zwar das erste Tor ihrer noch kurzen EM-Karriere, muss sich dennoch am Ende geschlagen geben. © AFP | Ina Fassbender

Türkei gegen Georgien: So laut ist es beim BVB selten

Die Gesänge dröhnten durch die feuchte Luft auf den Rasen. Die deutlich kleinere Anhängerschaft des EM-Debütanten Georgien versuchte dagegenzuhalten. Es wurde geschrien, gepfiffen, gebuht, Pyrotechnik gezündet. Es kann sehr laut sein, wenn der BVB spielt, so laut aber ist es selten.

Und dann noch dieser Spielverlauf.

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Erst knallte, ein anderes Verb kann es für diesen türkischen Volleyschuss nicht geben, Mert Müldür den Ball vom Sechzehnmeterraum in den rechten Winkel (25.). Ein kleines Erdbeben folgte, die Spieler rutschten auf Knien zur Eckfahne, die türkischen Fans rissen die Arme hoch, hüpften, Bierbecher flogen. Nur zwei Minuten später drückte Kenan Yildiz den Ball erneut über die Linie, und man konnte sich fragen, ob die wackelnden Stadionmauern halten würden. Bis der Videoassistent dem argentinischen Schiedsrichter Facundo Tello mitteilte, dass Yildiz im Abseits gestanden hatte.

Auch die Türkei erlebt bei der Europameisterschaft in Deutschland eine Art Heim-EM. Knapp drei Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben hier, die meisten von ihnen drücken auch dem Land am südöstlichen Rand von Europa die Daumen. Doch, nachdem der zweite türkische Treffer zurückgenommen wurde, schien die Mannschaft von Trainer Vincenzo Montella ihre Überzeugung zu verlieren. Georgien wurde frecher und frecher – und traf: zum ersten Mal bei einer Europameisterschaft.

Die türkischen Fans haben das BVB-Stadion fest in ihrer Hand.
Die türkischen Fans haben das BVB-Stadion fest in ihrer Hand. © AFP | Ina Fassbender

Plötzlich bringt Georgien die große Türkei ins Wanken

Georges Mikautadze durfte am türkischen Fünfmeterraum unbedrängt abschließen, Torhüter Mert Günok rutschte der Ball durch die Finger (32.). Nun sprangen plötzlich die georgischen Fans übereinander, einige hatten Tränen in den Augen. Das Land, das an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien liegt, hat gerade einmal so viele Einwohner und Einwohnerinnen wie Berlin, jetzt brachte es die große Türkei ins Wanken.

Es gab in Hälfte zwei weitere Angriffe. Der türkische Kapitän Hakan Calhanoglu hatte Pech bei einem Freistoß. Seine Mannschaft suchte nach einem Weg gegen die dicht gedrängte georgische Verteidigung. Der Außenseiter aber blieb aufmüpfig und erstaunlich ballsicher. Khvicha Kvaratskhelia, für deutsche Verhältnisse sind die Nachnamen äußerst kompliziert, grätschte und lenkte den Ball nur knapp am türkischen Tor vorbei. Die Sensation war möglich.

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Und dann dieses Tor.

Das türkische Wunderkind Arda Güler, gerade einmal 19 Jahre alt, angestellt beim großen Real Madrid, drehte den Ball mit dem linken Fuß in den linken Winkel. Ein Tor wie ein Gemälde, das die etwas ruhiger gewordenen türkischen Fans wiederbelebte und ihr Land in Richtung Sieg manövrierte. Der Regen nahm wieder zu, die in Rot gekleideten Männer und Frauen auf der Tribüne hoben ihre Smartphones in die Luft und machten die Taschenlampen an. Ein Lichtermeer in Dortmund, das den Traum von einer erfolgreichen Europameisterschaft symbolisierte.  

Einmal noch blieb allen das Herz stehen, als der Ball an den türkischen Pfosten knallte und Samet Akaydin mit dem Kopf auf der Linie klärte. Dann entschied Kerem Aktürkoglu die Partie. Als nächstes spielt Montellas Elf am selben Ort gegen Portugal, Georgien nimmt es mit Tschechien auf. Es wird wieder geschrien werden, gejubelt, gebuht. Fußball kann besonders sein.