Hagen. Wenn Stimmen nicht mehr funktionieren, geht in Chören oft die Harmonie verloren. Chorleiter verraten, wie man mit Brummern umgeht.
Hilfe, der halbe Tenor wackelt, und bei den Sopranen treffen ausgerechnet die lautesten Sängerinnen das hohe „a“ nicht. Wenn Stimmen nicht (mehr) funktionieren, laufen Laienchöre häufig in tragische Konflikte mit großem Verletzungspotenzial. Wie gehen Chorleiterinnen und Chorleiter in der Region mit Brummern um, und was raten sie?
„Ich habe knapp 20 Sänger, die sauber singen, aber keine Noten lesen können. Mit denen treffe ich mich jetzt immer vor der eigentlichen Probe und unterrichte sie im Notenlesen“, so der neue Hagener Chordirektor Julian Wolf. Der junge Chorexperte leitet nicht nur die Profis des Hagener Opernchores und die versierten Mitglieder des Extrachores, sondern auch den Philharmonischen Chor. Der wurde vor 13 Jahren vom damaligen Generalmusikdirektor Prof. Florian Ludwig ins Leben gerufen; jeder konnte mitsingen. Heute sind noch rund 70 Laien darin aktiv. Der Chor führt zusammen mit dem Philharmonischen Orchester Hagen große sinfonische Chorwerke auf, am 21. Dezember steht Bachs „Weihnachtsoratorium“ auf dem Programm.
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Derzeit durchlebt der Philharmonische Chor Hagen eine Phase der Neuorientierung. Versierte Sängerinnen und Sänger beklagen sich über Nachbarn, die keinen Ton und keinen Rhythmus halten könnten. Wie löst man das? Julian Wolf hat alle Mitglieder zum Vorsingen gebeten und einigen anschließend per Mail mitgeteilt, dass sie auf dem dort abgerufenen Leistungsstand nicht weitersingen können. Es gab große Empörung. „Die Kommunikation war sicherlich verbesserungsbedürftig“, räumt der junge Dirigent ein. „Aber viele der Sängerinnen und Sänger haben das Angebot zu persönlichen Gesprächen genutzt und werden jetzt ein weiteres Mal vorsingen.“ Keine Handvoll hätte den Chor verlassen, sieben neue Sänger wären aufgrund des Vorsingens hingegen hinzugekommen, „weil sie gehört haben, da passiert jetzt was. Mir liegt der Chor sehr am Herzen, ich stecke da ziemlich viel Arbeit hinein.“
Es geht um das Miteinander
„In einem Laienchor geht es darum, miteinander zu musizieren“, beschreibt der Mendener Musikdirektor Klaus Levermann seine Philosophie. Der erfahrene Chorleiter ist Referent im Inklusionsprojekt „Hier klingt’s mir gut“, einer bundesweiten Modellinitiative. „Ich halte Laienchöre für soziale Einrichtungen“, sagt er. „Im Chor kann ich meine individuellen Stärken in der Gemeinschaft ausleben. In Takt 5 bis 8 komme ich vielleicht nicht mehr hoch, dafür aber mein Nachbar. Und ich bin dafür rhythmisch besser.“ Es sei Aufgabe des Chorleiters, Stimmen so zu führen, dass sich die Fähigkeiten gegenseitig verstärken würden. „Jede Stimme hat ihre Berechtigung.“
Der Mendener „Chorpapst“ Michael Schmoll, Professor für Gehörbildung und Musiktheorie in Osnabrück, differenziert. „Rein fachlich ist nicht unbedingt etwas dagegen zu sagen, wenn ein Chorleiter eine bestimmte Klangvorstellung hat. Es gibt viele Chöre, wo die Mitglieder regelmäßig vorsingen müssen.“ Pädagogisch sei an diesem Punkt bei Laiensängern jedoch Fingerspitzengefühl gefragt.
Florian Ludwig, Professor für Dirigieren in Detmold, und Gründer des Philharmonischen Chores Hagen, möchte gerne mit dem Vorurteil aufräumen, dass alte Stimmen nicht mehr funktionieren. Es komme darauf an, die Stimme regelmäßig zu pflegen und zu trainieren. „Erfahrung ist viel wert, und Jugend ist nicht alles. Das sollte unserer Gesellschaft klarer werden“, sagt er.
Leistung oder nicht
Die Altistin Christa Maria Jürgens ist Leiterin der Musikschule Lennestadt, diplomierte Opernsängerin und erfahrene Stimmbildnerin. Sie leitet mehrere Ensembles, darunter bekannte Kinder- und Jugendchöre. „Es kommt darauf an, was für ein Anspruch der Chor hat. Manche Chöre, die sich den Leistungsgedanken auf die Fahne geschrieben haben, machen alle zwei Jahre ein Vorsingen, dabei müssen alle Mitglieder ihren Leistungsstand zeigen.“ Von der verbreiteten Praxis, Sängerinnen und Sänger ab einem bestimmten Alter auszusortieren, hält Christa Maria Jürgens gar nichts. „Wie eine Stimme funktioniert, hat nicht unbedingt mit dem Alter zu tun. Ich habe eine 87-jährige Sängerin, die singt besser als mancher 20-Jährige. Eine Struktur von Stimmbildung und permanentem Training hält den Alterungsprozess auf Trab.“
Stimmt der Ton im Sinne des Wortes nicht mehr, rät Christa Maria Jürgens zu Einzelgesprächen. „Wenn jemand selbst merkt, dass das hohe „b“ nichts mehr für ihn ist, kann sie trotzdem noch eine tolle Mittellage haben. Und man kann vorschlagen, dass sie künftig zweiten Sopran singt, statt ersten.“
„Die Stimme ist ein unfassbar persönliches Instrument. “
Coaching, Stimmbildung und Gespräche helfen in den meisten Fällen, weiß die Chorleiterin. „Die Stimme ist ein unfassbar persönliches Instrument. Damit sind viele Emotionen verbunden. Als Leitung fühle ich mich verpflichtet, zu schauen, wie ich dem Sänger, der Sängerin helfen kann.“
Christa Maria Jürgens weiß aus ihrer Praxis, dass in manchem Brummer ein Caruso schläft. „Es gibt Männer, die brummen, weil sie Bass singen, eigentlich aber Tenöre sind. Es ist meine Aufgabe zu sehen, warum brummt der denn?“
Und doch hat auch Christa Maria Jürgens bereits Chormitglieder nach Hause schicken müssen. „Es ist noch nie passiert, dass ich jemanden wegen seiner Stimme nicht wollte. Aber ich habe schon jemanden in einer Gruppe nicht haben wollen, weil es menschlich nicht stimmte. Rhythmus, Noten, Intonation, das kann man lernen, aber wenn es menschlich nicht stimmt, ist es für die Gruppendynamik oft sehr schwierig.“