Hagen. Das Publikum ist begeistert vom Auftritt des Ausnahmegeigers Sandro Roy beim Sinfoniekonzert in Hagen. Diese Neuerungen gibt es.

Die Erfindung des Echos gehört zu den großen Wundern der Musik. Dass diese Abenteuerreise noch längst nicht beendet ist, konnten die Besucher jetzt in einem außergewöhnlichen Sinfoniekonzert der Hagener Philharmoniker erkunden. Unter dem Titel „Barock meets Gypsy and Jazz“ geht es vom Barock über den Jazz bis zur Weltmusik. Das Publikum feiert die Philharmoniker, den Dirigenten Werner Ehrhardt und den wunderbaren Violinisten Sandro Roy mit langem Beifall, teils auch im Stehen.

Das Sinfoniekonzert wurde im Theater Hagen gespielt, nicht in der Stadthalle. Das Orchester muss sparen, die Miete der Stadthalle ist teuer, daher wird im Frühjahr noch ein weiteres Konzert im Großen Haus erklingen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Dank des bürgerschaftlich gestifteten Konzertzimmers, einem Bühnenaufbau, der die Akustik erheblich verbessert, kann der Klang gut ins Auditorium abstrahlen. Die Aufführungssituation ist intim und konzentriert, anders als in der Stadthalle, wo eine große Distanz Musiker und Zuhörer trennt und der Hörgenuss immer wieder durch Störgeräusche aus dem Foyer irritiert wird. Auf der anderen Seite ist die Bestuhlung im Theater inzwischen so durchgesessen, dass viele ältere Gäste Angst haben, dass sie aus ihren Sitzen nicht wieder hochkommen.

Brückenschläge zwischen den Stilen

Der Kölner Geiger und Dirigent Werner Ehrhardt ist der Gründer des auf historische Aufführungspraxis spezialisierten Ensembles Concerto Köln, das sich mit berührungsfreien Brückenschlägen zwischen den Stilen einen hervorragenden Namen gemacht hat. Dazu gehört die Begegnung mit dem hochbegabten jungen Geiger Sandro Roy, der aus einer Augsburger Sinti-Musikerfamilie stammt und in der Tradition der komponierenden Gypsy-Virtuosen klassische Violintradition, Jazz und Weltmusikstile zusammenbringt, ohne dass gängige Klischees über Gypsy-Jazz bedient würden.

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Aber was hat das mit dem Echo zu tun? Im Zeitalter der Renaissance wollten sich Musiker nicht mehr damit zufriedengeben, entweder in der Funktion der Kirchenmusik oder in der Funktion der Tanzmusik spielen und komponieren zu müssen. Sie wollten frei sein. Ihre Musik sollte keinem Zweck gehorchen außer sich selbst. Sie experimentierten mit neuen Klangkombinationen. Die Instrumentalisten durften endlich zeigen, was sie konnten. Die reisenden Virtuosen werden geboren. Es gab allerdings ein theoretisches Legitimationsproblem. Warum sollte ein Mensch überhaupt musizieren, wenn nicht zum Lobe Gottes oder im Dienste des Tanzes? Über diese Frage haben sich die damaligen Musiktheoretiker viele Gedanken gemacht. Die Antwort fanden sie unter anderem in der Geschichte der Nymphe Echo.

Der Echo-Effekt

Und das Echo wird zu jenem musikalischen Effekt, mit dem im frühen Barock nach Herzenslust herumprobiert wird. So zum Beispiel auch der schwedische Komponist Johan Helmich Roman (1694-1758), der in seiner „Suite Nr. 1“ mit unterschiedlichen Echo-Effekten arbeitet und dazwischen Melodien der Spielleute integriert. Werner Ehrhard dirigiert ohne Stab und findet einen wunderbar federnden Puls für die „Suite“; das Orchester spielt teils mit barocken Instrumenten, die Streicher mit wenig Vibrato, das klingt apart und geistvoll.

Die Orchesteraufstellung unterstützt die Echo-Wirkungen. Die ersten und zweiten Geigen sitzen einander gegenüber, Bratschen und Celli in der Mitte. Bei Georg Friedrich Händels (1685-1759) „Concerto a due chori“ HWV 333 wird das Prinzip der Doppelchörigkeit und der damit möglichen Raumklang- und Echowirkungen potenziert. Denn es gibt hier nicht den einen Solisten. Sondern zwei Gruppen von Bläser-Solisten, die mit dem Streichorchester als drittem „Chor“ konzertieren, stehen sich gegenüber. Die Hörner sind in Hagen in den Orchesterlogen positioniert, die beiden Trios aus Oboen und Fagott stehen am Bühnenrand. Und dann explodiert die Musik in einem wilden Farbenrausch, der vor allem den beiden ersten Oboistinnen große Kondition abverlangt. Und auch die Hörner leisten auf ihren Naturtoninstrumenten unfallfrei Erstaunliches.

Die Sinfonie Es-Dur von Joseph Martin Kraus (1756-1792) spiegelt demgegenüber eine spätere Epoche, die Empfindsamkeit, und sie passt sich recht ins Programm, weil sie sich wegen der vielen kleinteiligen Wiederholungen doch recht zieht.

Experimentell hingegen sind die beiden Händel-Bearbeitungen von Massimiliano Toni, der als Solist am Cembalo und am Klavier mitwirkt. In „Perpetuum Passacaglia“ und „Lascia ch’io pianga“ wird die barocke Lust am Improvisieren und am freien Spiel in den Jazz übersetzt. Es kommt zu spannenden Interaktionen zwischen dem Orchester-Konzertmeister und der Sologeige, während der alte Passacaglia-Rhythmus zum modernen Groove wird, der die Musik vorantreibt.  Und die Sologeige singt über den vielschichtigen Farbfeldern der Tutti-Musiker.

Sandro Roy ist ein unglaublich guter Geiger, der mit vollem Körpereinsatz spielt, aber stets die Kontrolle über seinen Ton behält. In der Tradition der großen Gypsy-Geiger komponiert er selbst. Sein „Concertino“ wird zu einem Doppelkonzert für Klavier und Geige, eine Spurensuche in der Musikgeschichte, in der Händels Klangexperimente gleichberechtigt neben der modernen Suche nach Identität in der Gypsy-Tradition stehen. Bei der „Fantasie sur Ravel“ kommt zusätzlich die Verbeugung vor dem Virtuosentum hinzu, die sich in Ravels Konzertrhapsodie „Tzigane“ manifestiert. Und die ihre Wurzeln in den ersten Schritten der Barockkomponisten in Richtung Echowirkungen haben.

Das begeisterte Publikum will Sandro Roy und seine Kollegen kaum von der Bühne lassen. Als Zugabe gibt es einen Walzer, den Roy für seinen kleinen Neffen geschrieben hat.