Bonn/Hagen. 1927 malte Conrad Felixmüller drei Bilder von der Hasper Hütte. Zwei sind in Museen. Das dritte war nie öffentlich zu sehen. Bis jetzt.

Das vielleicht wichtigste Gemälde zur Industrialisierung im Westen ist künftig erstmals öffentlich zu sehen. Das LVR-Landesmuseum in Bonn konnte das Bild „Kind vor Hochofen“ von Conrad Felixmüller (1897-1977)ankaufen. Der Dresdner Künstler malte es 1927 in Hagen-Haspe aus dem Wohnzimmerfenster der Familie Wulf in der Kölner Straße 49. Der Junge am Fenster ist der Sohn Ludwig Wulf. Lange befand sich das Werk in seinem Besitz. Die Recherche zum Gemälde spiegelt ein Kapitel deutscher Kunstgeschichte.

„Für uns ist das Gemälde wirklich ein Glücksfall.“

Dr. Christoph Schmälzle, LVR-Museum Bonn

Der junge Maler Conrad Felixmüller wird 1920 mit dem Sächsischen Staatspreis geehrt. Er nutzt das zweijährige Stipendium aber nicht – wie üblich – für eine Reise nach Rom, um dort alte Ruinen zu malen. Sondern er fährt ins Ruhrgebiet, wo um diese Zeit die Schlote wie Kirchtürme in den Himmel sprießen. Einige Jahre später besucht er die Region erneut, wie die drei Bilder beweisen, die er in Hagen-Haspe malt, als Gast der Familie Eckart Wulf, dem Direktor der Hasper Oberrealschule. „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“, befindet sich heute im Wuppertaler Von der Heydt-Museum; „Hochofenarbeiter“ ist im Deutschen Historischen Museum Berlin und „Kind vor Hochofen“ war im Besitz des Kindes, Ludwig Wulf, der Lehrer in Meinerzhagen wurde und dem Maler das Werk 1974 abkaufte. Wulf seinerseits veräußerte das Bild später an eine Berliner Sammlerfamilie, von dort ging es 2023 über das Bamberger Kunsthaus Senger in den Handel. Man weiß sehr wenig über den Lehrer Ludwig Wulf, auch nicht, warum er das wichtige Gemälde im hohen Alter verkaufte.

Drei Bilder malte Conrad Felixmüller 1927 von der Hasper Hütte: „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ befindet sich als Schenkung der Familie Felixmüller im Von der Heydt-Museum Wuppertal.
Drei Bilder malte Conrad Felixmüller 1927 von der Hasper Hütte: „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ befindet sich als Schenkung der Familie Felixmüller im Von der Heydt-Museum Wuppertal. © Von der Heydt Museum Wuppertal | Von der Heydt Museum Wuppertal

Dr. Christoph Schmälzle, der wissenschaftliche Referent für Kunstgeschichte des Bonner LVR-Museums, entdeckte „Kind vor Hochofen“ am Stand von Senger auf der Maastrichter Kunstmesse Tefaf und war wie elektrisiert. „Für uns ist das Gemälde wirklich ein Glücksfall“, sagt er. „Es füllt eine Lücke in unserer Sammlung. Wir werden es in der neuen Dauerausstellung „Welt im Wandel“ zeigen, weil es exemplarisch für den Wandel der Landschaft durch die Industrialisierung steht. In dem Bild steckt viel mehr drin als der Ort seiner Entstehung. Es ist weit über Hagen hinaus bedeutsam.”
  “ Ein Jahr lang hat die Planung des Ankaufs gedauert, unterstützt vom Kunsthaus Senger, das den Verbleib des Bildes in Deutschland ermöglichen wollte – es gab weitere Anfragen von Museen aus den USA. Prof. Dr. Barbara Schock-Werner, Vizepräsidentin der Nordrhein-Westfalen-Stiftung, erklärte bei der Vorstellung des Ankaufs in Bonn: „Das Gemälde ist auch als Dokument der Hagener Heimat- und Wirtschaftsgeschichte von besonderer Bedeutung.“ Die NRW-Stiftung hat neben anderen Förderern den Erwerb ermöglicht.

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Zum Bild gehören fünf Briefe. Daraus wird ersichtlich, dass Felixmüller in den 1920er-Jahren darüber nachdenkt, nach Hagen oder Essen umzuziehen, aber Sorge hat, diesen Wechsel seinen Söhnen zuzumuten. Schmälzle: „Felixmüller war ein gefragter Porträtist. Die Hochofen-Bilder hat er für sich gemalt, die hat er zeitlebens behalten. Aus den Briefen geht hervor, wie die Bilder den Krieg überlebt haben. Er war 1934 von Dresden nach Berlin gezogen. Schon kurz nach Kriegsausbruch brachte er seine Kunstwerke auf dem Land in Sicherheit. Die Berliner Wohnung wurde 1944 bei einem Luftangriff zerstört.” 1974, anlässlich des Bild-Ankaufs, malte Felixmüller ein Porträt der Tochter von Ludwig Wulf, Martina Wulf, das ins Werkverzeichnis aufgenommen wurde.

Was hat Felixmüller denn 1927 in Hagen-Haspe so begeistert, dass er dafür das Colosseum in Rom links liegen lässt? Die rasche Industrialisierung des heutigen Kernlandes der industriellen Revolution zwischen Ennepe und Wupper schafft ungeahnten Wohlstand, undenkbaren Fortschritt sowie nie gekanntes Elend und Entfremdung im Zeitraffertempo. Die Maler sind fasziniert von der Landschaftsveränderung, die mit dem Maschinenzeitalter einhergeht und von der Technik; erstmals lenken sie zudem den Blick auf die Arbeiter als neue Gesellschaftsschicht.

Eine neue Welt aus Hochöfen

Felixmüller blickt aus dem bürgerlichen Wohnzimmerfenster der Familie Wulf auf eine neue Welt. Der Hochofen wird bei ihm zur Kathedrale der Zukunft. Mit dem Blick des sechsjährigen Ludwigs sieht er auf all das Spannende und Erstaunliche vor dem Fenster, die Lokomotiven, welche die Erz- und Schlacke-Waggons ziehen, die Wolken aus Qualm, mit welchen die Thomaskonverter den Himmel in Bronzetönen färben. Für Felixmüller ist das der Aufbruch in eine bessere Zeit, und das Kind verkörpert diesen Aufbruch – dass die Hütte bereits 1982 geschlossen und abgebrochen wird, die Zukunft also nur wenige Jahrzehnte Bestand hatte, macht das Gemälde als Zeugnis einer Welt im Wandel um so bedeutsamer.

Aus den Unterlagen von Ludwig Wulf geht hervor, dass der Sohn und Nachlassverwalter Titus Felixmüller das Gemälde „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ im Jahr 1979 für 30.000 Mark dem Hagener Osthaus-Museum zum Kauf anbot. Der Handel kam aber einem Zeitungsbericht der Westfälischen Rundschau zufolge nicht zustande, da das Osthaus seinerzeit gerade das „Selbstporträt mit Muse“ von Otto Dix angekauft hatte. Die Söhne Titus Felixmüller und Dr. Luca Felixmüller gaben das Nachtbild daraufhin 1992 als Dauerleihgabe an das Von der Heydt-Museum in Wuppertal und schenkten es dem Haus schließlich im Jahr 2002. Ludwig Wulf hat offenbar nicht versucht, sein „Kind vor Hochofen“ an das Hagener Osthaus-Museum zu verkaufen, nach Auskunft einer Sprecherin der Stadt gibt es keine Unterlagen zu etwaigen Verhandlungen.

Öffentlich zu sehen war „Kind vor Hochofen“ bisher nur einmal, in der Ausstellung „Verborgene Kunst in Kierspe und Meinerzhagen“ im Jahr 1998 in Haus Nordhelle. Seit Ende Juli hat das Bild nun seinen festen Platz in der neuen Dauerausstellung des LVR-Museums in Bonn und steht dort sinnbildlich für die Umwälzungen der Zwischenkriegs-Moderne.