Paderborn. Corvey und das Erbe der Antike zeigt im Diözesanmuseum mit kostbaren Objekten, wie in Westfalens Klöstern Weltgeschichte bewahrt wurde.

Mitten im Nirgendwo, weitab von der zivilisierten Welt, bauen die Karolinger ihrem Gott ein Haus aus Steinen, ein himmelsweisendes Monument mit einer riesigen Schrifttafel, deren weithin leuchtende Buchstaben aus Gold verkünden, dass dieser Ort von den Engeln beschützt wird. Die Gründung des Klosters Corvey vor über 1200 Jahren markiert einen Zusammenprall der Kulturen und steht für eine abenteuerliche Rettungsmission. Ohne Corvey wären die Annalen des Tacitus verloren, und die heutige Welt wüsste nichts von der Varusschlacht. Diesen Themen widmet sich die große Sonderausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ im Diözesanmuseum Paderborn. Dafür werden Leihgaben von höchstem internationalem Niveau zusammengeführt. Darunter ist auch jener einzige Tacitus, den Papst Leo X. (geboren als Giovanni de Medici) im 16. Jahrhundert aus Corvey klauen ließ.

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Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann erzählt die Wunder von Corvey nicht als Geschichte der Sieger, der Karolinger, welche die Saxones im Westfalenland besiegen und die neue Provinz mithilfe von Klöstern befrieden und regieren. Im Gegenteil, sie hat auch jene Menschen im Blick, die in Westfalen leben, als die Karolinger kommen, von denen die Nachwelt aber nicht einmal weiß, wie sie sich selbst nennen, da sie keine Schriftkultur haben und lediglich archäologische Fragmente etwas über sie verraten.

Umfassender Kulturverlust

Gleichzeitig führt die überwältigende Ausstellung auch mithilfe neuester multimedialer Vermittlungstechnik mitten in die Zeit eines umfassenden Kulturverlustes, in der ein Netzwerk von Frauen und Männern versucht, das vorhandene Wissen zu retten. Denn der Niedergang des römischen Reiches hat zur Folge, dass Bücher (auf Papyrus verfasst) und handwerkliche Techniken verschwinden, verloren gehen, vergessen werden. Die Bibliothek von Corvey war seit ihrer Gründung eine Rettungsstation für antikes Wissen. „Wir wüssten heute nichts über Cäsar und Cicero, wenn es diese Klöster nicht gegeben hätte“, betont Christiane Ruhmann. „Die Mönche sind nach Rom gefahren und haben dort die verbliebenen Fragmente des Wissens der Antike gesammelt.“

Tacitus Annalen Corvey
Ausstellung Corvey und das Erbe der Antike im Diözesanmuseum Paderborn. Die einzige erhaltene Abschrift der Annalen des Tacitus befand sich im Kloster Corvey. Sie wurde von den Medici gestohlen. Zur Ausstellung im Diözesanmuseum kehrt das kostbare Manuskript aus Florenz nach Paderborn zurück.  © Diözesanmuseum Paderborn | Waltraud Murauer-Ziebach

Die Kuriere der internationalen Museen und Bibliotheken haben sich im Vorfeld der Eröffnung am 21. September die Klinke in die Hand gegeben. Der Mittwochnachmittag wird zum besonderen Moment. Dr. Francesca Gallori, Direktorin der Biblioteca Medicea Laurenziana Florenz, bringt als Kurierin höchstpersönlich die Kiste mit dem gestohlenen Tacitus vorbei. Die wertvolle Handschrift ist immer an der Kette, denn die Biblioteca Medicea ist eine sehr alte Sammlung; und so wurden früher unschätzbare Schriften gesichert.

„Es gab tatsächlich überall Stützpunkte von Leuten, die sagten, es geht gerade alles den Bach runter, wir müssen das Wissen retten.“

Christiane Ruhmann
Kuratorin der Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“

„Tacitus berichtet in seinen Annalen über eine der traumatischsten Niederlagen des römischen Reichs überhaupt, die Varusschlacht im Jahr 9 nach Christus. Und diese Annalen sind in genau einer einzigen Handschrift überliefert, und die kommt aus dem Kloster Corvey. Jemand hat im 3. Jahrhundert, vermutlich in Fulda,  das originale Papyrus abgeschrieben“, berichtet Christiane Ruhmann. Dass sich in den mittelalterlichen Klöstern in den Wäldern nördlich der Alpen unermessliche Buchschätze der Antike erhalten haben, vermuten einige Jahrhunderte später die Fürsten der Renaissance, wo die Antike wieder in Mode kommt. Die mächtigen Medici aus Florenz  schicken Diebe auf den Weg. „Die haben unseren Tacitus in Corvey geklaut und in Florenz drucken lassen.“ Der Medici-Papst Leo X. gewährt den Mönchen von Corvey ohne Reue oder Gewissensbisse dafür einen ewigen Ablass.

Die Inschrifttafel der Klostergründung des Klosters Corvey war mit vergoldeten Bronzebuchstaben ausgelegt. Diese müssen weithin in die westfälischen Wälder geleutet haben.  Die Tafel gehört zu den spektakulären Ausstellungsstücken der Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ in Paderborn.
Die Inschrifttafel der Klostergründung des Klosters Corvey war mit vergoldeten Bronzebuchstaben ausgelegt. Diese müssen weithin in die westfälischen Wälder geleutet haben. Die Tafel gehört zu den spektakulären Ausstellungsstücken der Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ in Paderborn. © dpa | Guido Kirchner

Das Christentum ist eine antike Religion, keine Erfindung des Mittelalters, auch diese Traditionslinie wird in der Ausstellung anhand von sensationellen Exponaten wie der Bärin von Aachen oder den Sarkophag-Fragmenten Ludwigs des Frommen erfahrbar.  Die Religion hilft dabei, Wissen und Technik der Antike zu bewahren. Die Ausstellung zeigt Reste von Fußböden und Wandverkleidungen aus kostbarem Marmor, dazu Objekte aus Glas. Museumsdirektor Dr. Holger Kempkens: „Um diese Materialien nach Westfalen zu bringen, war um 823 ein großer finanzieller und logistischer Aufwand nötig. Der Marmor musste über die Alpen herbeigeschafft werden. Corvey war kein Bettelkloster, es hatte mit Ludwig dem Frommen einen kaiserlichen Gründer.“

Mittelalterliche Pädagogik

Eine prägende Figur dieser kulturellen Rettungsmission ist der spätantike Gelehrte Cassiodor (485 – um 580), der schon in jungen Jahren am Hofe Theoderichs wirkt und sich nach dem Zusammenbruch des Ostgotenreiches das Lebensziel gesetzt hat, die Kultur der Antike zu bewahren. „Der hat seine Boten ausgeschickt, alles zu sammeln, was man an Wissen sammeln konnte. Es gab tatsächlich überall Stützpunkte von Leuten, die sagten, es geht gerade alles den Bach runter, wir müssen das Wissen retten“, so Christiane Ruhmann.  Cassiodorus hat noch mehr getan, er hat eine Studienordnung verfasst und wird damit zum Begründer der mittelalterlichen Pädagogik.

Eine eigene Abteilung ist den Saxones gewidmet, wie Kaiser Karl der Große die Völker Westfalens nennt. Ihre Kultur gibt viele Rätsel auf, da es nur wenige archäologische Überlieferungen gibt. „Die Sachsen haben nichts aufgeschrieben. Wir haben nur noch Fitzelchen. Daraus lässt sich trefflich einen Scheiß konstruieren, von germanischen Großreichen und so weiter“, ärgert sich Christiane Ruhmann. Warum gab es in Dülmen im 7./8. Jahrhundert eine Glockengussgrube lange, bevor Westfalen offiziell christianisiert wurde? Am Beispiel des in  Corvey geschriebenen  Heliand, einem Großepos, das die vier Evangelien in Altsächsisch zusammenfasst, lassen sich Rückschlüsse auf die Kultur ziehen. Der Verfasser muss bei Herodes umständlich erklären, was ein Geburtstag ist und warum man so etwas feiert. Die Saxones kennen das Konzept Geburtstag nicht. Allerdings: „Die westfälische Kultur hat ganz schnell angefangen, sich zu organisieren. Und wie? Die haben Frauenklöster gegründet wie das Stift Meschede“, weiß Christiane Ruhmann.

Die Ausstellung macht auch mit Blick auf das Heute deutlich, dass Wissen das Rückgrat jeder Zivilisation ist und dass das Mittelalter längst nicht so finster war, wie das Klischee es will. Christiane Ruhmann: „Das Kloster Corvey war eine große Wissensschaufel. Die haben das Wissen aus der Antike weitergeschaufelt.“ Deutlich wird nicht nur, wie weit die Wege sind, welche die Mönche dafür auf sich nehmen, sondern auch, wie Entwicklung grundsätzlich funktioniert.  Christiane Ruhmann: „Es gibt keinen Fortschritt ohne Migration. Die Impulse kommen immer von außen. Sie werden angeeignet und weiterentwickelt.“

„Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter“: 21.09.2024 – 26.01.2025 im Diözesanmuseum Paderborn. Das Museum ist nicht barrierefrei. www.erbe-der-antike.de