Gevelsberg. Ein Fall aus Gevelsberg: Zwei Polizistinnen flüchten von einem Tatort und lassen einen verletzten Beamten zurück. Das wirft einige Fragen auf.

An eine vergleichbare Sache kann sich Eckhard Wölke nicht erinnern. „Die Fallgestaltung ist außergewöhnlich”, sagt der Rechtsanwalt und weiß, dass das zurückhaltend formuliert ist. Seit 1997 ist er als Jurist tätig, fast immer hat er Straf- und Disziplinarverfahren von Polizisten auf seinem Schreibtisch in Köln. Aber so etwas? Weder selbst erlebt noch irgendwo schonmal gehört. Der 59-Jährige, früher Polizist, vertritt eine von zwei Polizeibeamtinnen, die mittlerweile die Hauptrollen in einem Kriminalfall spielen, der sich in einer lauen Mai-Nacht 2020 in Gevelsberg im Ennepe-Ruhr-Kreis abspielte.

Verkehrskontrolle in Gevelsberg eskaliert

An jenem Abend kurz vor Mitternacht eskaliert eine routinemäßige Verkehrskontrolle. Die beiden Polizistinnen passieren in ihrem Wagen zwei Kollegen, die gerade Vitalij K. aus Ennepetal angehalten haben. Das Handzeichen eines Kollegen veranlasst sie – in einigen Metern Entfernung – ebenfalls zum Anhalten. Der mit Haftbefehl gesuchte Mann zieht eine Waffe, drückt ab, schießt einen Polizisten nieder. Die schusssichere Weste rettet ihn. Dessen Kollege erwidert das Feuer. Die beiden Polizistinnen, damals 32 und 37 Jahre alt, suchen Schutz hinter der Motorhaube ihres Fahrzeugs. Kugeln können zwar Türen und Kotflügel durchschlagen, den Motorblock aber nicht. So etwas lernt man in der Ausbildung. Was folgt, steht in keinem Lehrbuch.

„Meine Mandantin belastet die Situation natürlich, es geht ihr nicht gut – zumal wir noch ein Strafverfahren vor uns haben”, sagt Wölke, der Anwalt. Beide Beamtinnen sind in den Innendienst versetzt worden. Derzeit läuft das Hauptverfahren am Landgericht Hagen gegen Vitalij K. Im April müssen sich die beiden Polizistinnen vor dem Schöffengericht in Schwelm verantworten. Die Anklage lautet: gemeinschaftliche versuchte schwere Körperverletzung durch Unterlassung.

Beamtinnen lassen bei der Flucht Kollegen und Maschinenpistolen zurück

Denn: Die beiden Polizistinnen flüchten an jenem Abend vom Tatort, lassen nicht nur den angeschossenen Kollegen und den anderen Beamten zurück, sondern auch einen unabgeschlossenen Dienstwagen, in dem sich geladene Maschinenpistolen, Funkgeräte und weitere Polizeiausrüstung befinden. Sie flüchten zu Fuß, etwa 100 Meter, halten dann den Wagen einer jungen Frau an, mit deren Hilfe sie sich erst entfernen – um sich wenige Minuten später wieder zum Tatort bringen zu lassen.

Ein Fall, der Fragen aufwirft, weit über Gevelsberg hinaus. Fragen, die am Kern der Polizeiarbeit nagen. Die Frage nach Ausbildung und Eignung der Polizistinnen. Nach dem Ausmaß an Mut, den man als Kollege und Bürger erwarten kann.

Der Verlust des Beamtenstatus droht

Das Strafmaß für den erhobenen Vorwurf liegt bei einer Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und zehn Jahren. Brisant: Ab einer Verurteilung von einem Jahr sind sie ihren Beamtenstatus los. Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli von der Staatsanwaltschaft Hagen hat wenig übrig für Nachsicht. Polizisten seien „für Gefahrenabwehr zuständig. Dieser Pflicht sind sie nicht nachgekommen“.

Man könne, sagt Wölke, der Anwalt, „der Auffassung sein, dass man eine andere Erwartungshaltung an einen Polizisten hat. Andererseits finde ich die Bewertung für jeden, der nicht schonmal in der Situation war, schwierig.“ Es sei in dem Moment, mitten in der dunklen Nacht, völlig unklar gewesen, wer und wie viele mit welchen Waffen schießen. „Wir sprechen hier ja nicht von Polizistinnen, die in Downtown Los Angeles auf Streife sind, sondern in einem eher beschaulichen Gebiet.“ Der allergrößte Teil der Polizistinnen und Polizisten in NRW komme zum Glück nie in eine vergleichbare Situation.

Amoklauf von Winnenden 2009 hat viel verändert

Alle Polizisten in NRW schwören einen Eid, den Eid, „das Grundgesetz und alle in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Gesetze zu wahren und meine Amtspflichten gewissenhaft zu erfüllen, so wahr mir Gott helfe“. Sie werden in der Ausbildung auf Gefahrensituationen trainiert. Seit dem Amoklauf von Winnenden 2009, als ein Schüler an seiner Realschule 15 Menschen erschoss, sind regelmäßige Trainings zu Amokszenarien und Terrorismusbekämpfung für jeden verpflichtend.

Sebastian Fiedler aus Wetter, Kriminalhauptkommissar und Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter, kennt den Fall. Widersprüchliche Gefühle habe er verspürt, als er davon zum ersten Mal hörte. Zum einen sei da Verständnis für die Frauen, wenn sie aus Angst oder Überforderung gehandelt hätten. Zum anderen: „Erschrecken und Unverständnis aus professioneller Sicht.“

Spätestens nach Winnenden müsse jedem Beamten klar sein, dass Ausnahmesituationen eintreten können. Danach sei „sehr intensiv erörtert und juristisch bewertet worden, ob einem Polizeibeamten zuzumuten ist, sich aktiv in solche Situationen zu begeben, um einen Amoktäter zu bekämpfen und damit Menschenleben zu retten. Die klare Antwort lautete: ja.“ Als eine Aussage zum konkreten Fall will er das nicht verstanden wissen.

Vertrauen zerstört an diesem Abend

Aber er weiß, dass an diesem Abend Vertrauen zerstört wurde. „Es steht zu fürchten, dass nicht sehr positiv über die beiden Kolleginnen und ihr Verhalten in der Nacht geredet wird“, sagt Fiedler. Kollegen im Einsatz müssten einander das Leben anvertrauen können. Und die Menschen in diesem Land tun dies ebenfalls. „Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, dass hier kein Normalfall verhandelt wird. Sie können sich darauf verlassen, dass die Polizei zur Tat schreitet, wenn’s drauf ankommt“, sagt Fiedler.

Der Fall zeigt aber, dass es keine Gewähr gibt, dass richtig gehandelt wird. Das werde intensiv geübt, sagt Dr. Christian Lüdke, der viele Jahre lang die psychologische Ausbildung von Spezialeinheiten bei der Polizei leitete. „Ich weiß, welchem Stress Menschen in Extremsituationen ausgesetzt sind. Selbst wenn sie das noch so oft trainiert haben, kann die reale Situation sie überfordern.“ Eine winzige Kleinigkeit könne ausreichen, um das Urteilsvermögen zu beeinflussen. Der Polizeiberuf erfordere in Bruchteilen von Sekunden Urteile, um Menschenleben zu retten und Täter zu verfolgen. „Polizisten“, sagt er, „sind eben auch Menschen, keine Maschinen.”

<<< KEINE IMAGE-KAMPAGNE FÜR DIE POLIZEI >>>

Vitalij K. flüchtete nach dem Schusswechsel vom Ort der Verkehrskontrolle und wurde noch in der Nacht von einem Sondereinsatzkommando gestellt. Neben einer Waffe führte er 52 Gramm Heroin mit sich. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl wegen Drogenhandels vor.

Die Flucht der beiden Frauen, aber auch die Tatsache, dass diese erst in der Hauptverhandlung offenkundig wurde, werfen kein gutes Licht auf die Polizei, findet Sebastian Fiedler, Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter. Das sagt der Wetteraner über…

… die Personalnot bei der Polizei und die Frage, ob über mangelnde Eignung manchmal hinweggesehen werden muss: „Wir haben definitiv ein großes strukturelles Personalproblem, allerdings bin ich weit davon entfernt, es mit diesem Thema oder gar diesem Fall zu verknüpfen. Es ist aber kein Geheimnis, dass es nicht leichter wird, ausreichend geeigneten Nachwuchs zu finden. Da geht es nicht nur um die Zahl der Bewerber, sondern auch um die Zahl derer, die das Studium erfolgreich beenden. Wenn demnächst fast 20 Prozent derjenigen, die wir jeden September einstellen, nach drei Jahren nicht ihr Studium abschließen und zeitgleich noch hunderte in Pension gehen, helfen uns die Verweise der Landesregierung auf die „hohen Einstellungszahlen“ kaum weiter. Das bleibt dann eine Milchmädchenrechnung.“

… Gruppengefühl beziehungsweise Korpsgeist: „Man kann es damit auch übertreiben. Wir kennen das aus dem Zusammenhang der rassistischen Chatgruppen. Es hat sich über Jahre hinweg niemand getraut, etwas zu melden. Im Gevelsberger Fall ist zumindest bemerkenswert, dass all diese Vorgänge vermeintlich erst in der Hauptverhandlung zu Tage getreten sind und nicht vorher schon Teil der Ermittlungsakte gewesen sein sollen.“

mögliche Versuche der Verheimlichung: „Ich stehe an der Seitenlinie. Von hier aus stehen mir solche Bewertungen nicht ansatzweise zu. Man wird insgesamt jedoch festhalten müssen, dass die Dinge, die bereits öffentlich sind, nicht Teil einer Imagekampagne für die Polizei würden.“