Gevelsberg. Pflegekraft (25) fährt Beamtinnen quer durch Wohngebiet, während die Kollegen unter Beschuss stehen. Aufarbeitung ist ausgesprochen mühsam.

Mit jeder Aussage, die vor dem Schwurgericht in Hagen zu diesem Themenkomplex getätigt wird, kommen neue Details ans Tageslicht zur Flucht der beiden Polizistinnen vom Tatort in Gevelsberg, an dem Vitalij. K. einen ihrer Kollegen niedergeschossen hatte. Zwar sitzt der 37-jährige Ennepetaler wegen versuchten Mordes auf der Anklagebank und die beiden Beamtinnen warten noch auf ihr eigenes Strafverfahren Ende April, doch ihr Handeln ist von hoher Bedeutung zur Rekonstruktion der Geschehnisse. Nun sagten der Polizeidirektor, der für die behördeninterne Aufarbeitung des Einsatzes zuständig ist, und die Frau aus, deren Pkw die beiden flüchtenden Polizistinnen gekapert hatten.

Den beiden Frauen (32 und 37 Jahren alt), die damals noch auf der Wache in Ennepetal ihren Dienst versahen, war wohl wenig daran gelegen, dass es in der Behörde Kreise zieht, dass sie ihre Kollegen im Stich gelassen hatten. Anders ist es zumindest kaum zu erklären, dass der Polizeidirektor im Zeugenstand mitteilte: „Ich habe erst Tage nach dem Einsatz davon erfahren, dass die beiden Frauen sich entfernt haben. Ich hatte keine Auskunft der beiden Damen, musste mir auch alles zusammenpuzzeln.“

Zeugin hört keine Schüsse

Nachdem der 60-Jährige die Aufarbeitung innerhalb der Behörde dargelegt hatte, zahlreiche am Einsatz beteiligte Polizisten, die beiden Frauen selbst sowie weitere zivile Zeugen ausgesagt haben, stellt sich den Prozessbeteiligten folgendes Bild dar: Um 23.47 Uhr und 34 Sekunden passieren die beiden Beamtinnen in ihrem Mercedes Vito die Stelle, an der die beiden Polizeibeamten Vitalij K. kontrollieren – unmittelbar an der Einfahrt zum Kartbahn-Parkplatz. Der Kollege, der später niedergeschossen wird, macht ein Handzeichen zum Anhalten. Die Frauen stoppen wenige Meter später.

Da hatte die Jüngere der beiden im Außenspiegel gesehen, dass Vitalij K. seinen Urinbecher nach dem Beamten wirft. Dann schießt der gebürtige Kasache. Die Frauen flüchten zu Fuß vom Tatort, ohne sich um ihre Kollegen zu kümmern, in Richtung Drehbank. Nach weniger als 50 Metern halten sie am nächsten Abzweig eine 25-jährige Altenpflegerin an. Diese sagte im Zeugenstand: „Die sind so wirr gelaufen, ich dachte erst, sie seien betrunken.“ Die 37-jährige setzt sich auf den Beifahrersitz, die 32-jährige auf die Rückbank. Sie sagen der jungen Gevelsbergerin, dass sie umgehend wenden soll. „Schüsse habe ich da keine gehört“, sagt diese auf Nachfrage vor dem Hagener Schwurgericht. War die Schießerei da etwa schon vorüber?

Die Beamtin auf der Rückbank fordert das Handy der 25-Jährigen, „obwohl die selbst eines dabei hatten“, wie die Frau aussagte. Derweil steht der Mercedes Vito, in dem sich geladene Maschinenpistolen, Funkgeräte und weitere polizeiliche Einsatzmittel befinden, verlassen aber unverschlossen auf der Mühlenstraße.

Etwa 1,6 Kilometer gefahren

Während die Polizistin auf der Rückbank über die 110 die Kreisleitstelle anruft, gibt die Kollegin Anweisungen, wo die Fahrt hingehen soll. „Ich habe einfach gemacht, was die mir gesagt haben“, teilt die 25-Jährige im Zeugenstand mit. Über die Drehbank muss sie mit dem Zivilfahrzeug bei Rotlicht auf Anweisungen der Polizistinnen die Kreuzung auf die Hagener Straße passieren, rechts abbiegen, die komplette Schnellmarkstraße durchfahren, in die Friedhofstraße und schließlich in den Ostlandweg abbiegen. „Im Wendehammer der Sackgasse sollte ich an einer Hecke halten und den Motor abstellen“, erinnert sie sich vor dem Hagener Schwurgericht.

Von der Mühlenstraße bis in den den Ostlandweg: Diese STrecke nehmen die Polizistinnen.
Von der Mühlenstraße bis in den den Ostlandweg: Diese STrecke nehmen die Polizistinnen. © WP | wruebel

Dann sagen ihr die Polizistinnen, dass sie wieder zurück zum Tatort fahren soll. Laut Aussage des Polizeidirektors aus Hagen, ist das wohl nicht aus einem intrinsischen Antrieb oder Pflichtbewusstsein passiert. „Sie sind erst auf Weisung der Leitstelle zum Tatort zurückgekehrt“, teilt der Mann mit, der den Einsatz aufarbeitet und betont: „Sie sind etwa 1,6 Kilometer im Wagen der Frau gefahren.“

Noch verwunderter über all das, was nach und nach im Rahmen des Prozesses gegen Vitalij K. zum Verhalten der beiden Polizistinnen auf den Tisch kommt, sind die Juristen. Diesmal war es Staatsanwalt Nils Warmbold, der seinem Ärger Luft machte: „Nichts, aber auch wirklich gar nichts von alle dem steht in der Akte.“ Er war genau wie die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen und Verteidiger Andreas Trode in den Papieren über die polizeiliche Aussage der 25-Jährigen gestolpert, zu deren Inhalt, dass sie die beiden Polizistinnen durch Gevelsberg gefahren hatte, es keinerlei weitere Ausführungen gegeben hatte. Dies ist nun mühevoll rekonstruiert worden und wird im Strafverfahren gegen die Polizistinnen Ende April betrachtet werden.

Das wird vor dem Amtsgericht in Schwelm stattfinden. Bei einem Urteil von einer Freiheitsstrafe, die mehr als ein Jahr beträgt, verlieren die Frauen, die in den Innendienst versetzt wurden, ihren Beamtenstatus.