Im Prozess gegen Vitalij K. (37) sagen die Polizeibeamten aus, auf die der 37-Jährige in Gevelsberg geschossen hat. Es bleiben Fragen.
Die laue Nacht im Mai 2020 verfolgt den 29-Jährigen bis heute in seinen Träumen. Kurz vor Mitternacht schlägt damals das 9-Millimeter-Projektil aus der Waffe von Vitalij K. während einer Routine-Kontrolle in seine schusssichere Weste ein. Womöglich rettet die Schutzkleidung dem Streifenpolizisten, der nun ebenso wie sein 23-jähriger Kollege vor dem Hagener Schwurgericht seine Erinnerungen an die Tatnacht schilderte, das Leben. Am Ende des zweiten Prozesstages bleiben zwei große Fragen für die Juristen. Erstens: Bleibt es bei den drei angeklagten versuchten Morden, die die Staatsanwaltschaft dem 37-jährigen Ennepetaler zur Last legt? Zweitens: Welche Rolle spielten in der Nacht zwei Kolleginnen für die Ergreifung von Vitalij K., die nur Sekunden vor dessen brutaler Tat in einem weiteren Streifenwagen den Tatort passierten?
Nach den überwiegend deckungsgleichen Aussagen der beiden Polizisten und der mehrfachen Ansicht des Videos, das die Kamera des Streifenwagens von der Tat aufgezeichnet hat, stellt sich folgendes Bild dar: Es ist kurz nach 23.30 Uhr als der 29-Jährige und sein 23-jähriger Kollege im Streifenwagen über die Hagener Straße in Gevelsberg fahren, als ihnen ein schwarzer 5er BMW Kombi älteren Baujahres auffällt. Grund: Er ist mit einem Oberhausener Kennzeichen unterwegs. Der Ältere erläutert: "Zu dieser Zeit hat es mehrere Geldautomatensprengungen gegeben. Die Täter aus den Niederlanden benutzten dabei gestohlene auswärtige Kennzeichen." Unmittelbar vor diesem Abend habe es erst eine Verhaftung gegeben, bei dem der Fluchtwagen ebenfalls ein OB-Nummernschild trug. Das Duo entscheidet sich, dem BMW zu folgen und der erregt ihre Aufmerksamkeit noch stärker, als er rasant über in die Drehbank abbiegt und weiter auf die Mühlenstraße fährt. Der 23-Jährige: "Es ist mehr als ungewöhnlich, dass Auswärtige auf Nebenstraßen fahren."
Nervös, stark schwitzend, zitternd
Die Polizisten entscheiden sich, den Mann anzuhalten. Mit dem Einschalten des Stop-Signals beginnt um 23.40 Uhr auch die Video-Aufzeichnung der Streifenwagenkamera. Der dunkle Wagen stoppt an der Einfahrt zum Kartbahn-Parkplatz, der ältere der beiden Beamten geht an die Beifahrerseite, schaut sich im Auto um, der jüngere an die Fahrerseite, übernimmt die Gesprächsführung. Auf dem Fahrersitz: Vitalij K. (37) ohne festen Wohnsitz, der aber regelmäßig bei seinen Eltern in Ennepetal übernachtet. Die sei auch jetzt sein Ziel, er komme von seiner Freundin aus Gevelsberg, teilt er den Beamten mit. Denen fällt auf: der gebürtige Kasache mit deutschem Pass schwitzt stark, auch im Gesicht, macht einen nervösen Eindruck, zittert.
Dazu hat er allen Grund: Er wird per Haftbefehl wegen Drogenhandels gesucht, hat knapp 52 Gramm Heroin und eine scharfe Waffe im Wagen, selbst Drogen im Blut. Außerdem besitzt er keinen Führerschein und mit dem Kennzeichen ist auch nicht alles in Ordnung. Dementsprechend kann er Führerschein und Fahrzeugpapiere nicht vorzeigen, die Abfrage des Kennzeichens durch die Polizisten ergibt, dass etwas mit der Zulassung nicht ok ist. Gleichzeitig verständigen diese sich per Blickkontakt über das Autodach, dass sie den Verdacht haben, der Fahrer habe Drogen konsumiert. Sie lassen ihn aussteigen, er kramt umständlich einen Personalausweis hervor, soll dann am Straßenrand eine Urinprobe für einen Schnelltest abgeben.
Plötzlich eskaliert die Routinekontrolle
Während Vitalij K. neben dem Bürgersteig den Becher füllt, überprüft der 29-Jährige seine Personalien, stößt auf den Haftbefehl, sichert sich noch einmal bei der diensthabenden Beamtin an der Kreisleitstelle ab, ob dieser auch sofort vollstreckt werden soll. Das ist der Fall. In diesem Moment fährt ein Mercedes Vito der Polizei vorbei. Der 29-Jährige macht ein Zeichen zu den Kollegen, bitte anzuhalten. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Plötzlich wirft der Angeklagte dem 29-Jährigen den vollen Urinbecher ins Gesicht, hechtet ins Auto. Beide Polizisten sprinten hinterher, versuchen, den Ennepetaler aus der Fahrertür wieder herauszuziehen. "Ich habe gemerkt, dass das nicht funktioniert und einen Stoß Pfefferspray in das Fahrzeuginnere gegeben", erläutert der 23-Jährige dem Gericht. Plötzlich schießen zwei Rauchwolken aus der Fahrertür. Schüsse. Der 29-Jährige fällt zu Boden, erwidert das Feuer, auch der 23-Jährige schießt. Insgesamt elf Mal, wie nachher festgestellt wird.
Auch Vitalij K. feuert weiter aus dem Auto, während die beide Polizisten sich in Deckung retten. Feuert er auch nach hinten auf den 23-Jährigen? Das ist eine der Fragen, die es zu klären gilt, denn daran entscheidet sich, ob am Ende drei Mordversuche in ein mögliches Urteil einfließen oder nur zwei. Im Video ist das - zumindest aus der Ferne - nicht genau zu erkennen. In der Motorhaube des Streifenwagens gibt es ein Einschussloch, ein Projektil dazu hat die Polizei nicht gesichert, so dass der Einschlag keiner konkreten Waffe zugeordnet werden kann.
Wo waren die Kolleginnen?
Im Weiteren ist zu sehen, wie Vitalij K. den Wagen startet und davonrast. Während der kommenden etwa 20 Minuten fahren Autos durch das Spurenfeld, ist anhand von Blaulichtflackern wohl zu sehen, wie die medizinische Hilfe eintrifft und dass Zeugen am Tatort eintreffen. Zu keiner Sekunde zu sehen sind die beiden Polizistinnen oder ihr Mercedes Vito. Warum kamen die beiden Frauen ihren Kollegen, auf die geschossen wurde, nicht zur Hilfe? Warum nahmen sie nicht die Verfolgung des Flüchtenden auf? Haben sie überhaupt auf das Anhaltezeichen ihres Kollegen reagiert? Zumindest der 23-jährige Polizist machte im Zeugenstand auf wiederholte Nachfrage vor dem Schwurgericht deutlich: "Die Mädels haben etwa fünf Meter hinter unserem Streifenwagen auf der gegenüberliegenden Fahrbahn angehalten, sind ausgestiegen und in Richtung der anderen Straßenseite gegangen. Das habe ich gesehen." Ein Einsatzbericht der Beamtinnen dazu existiert in den Ermittlungsakten nicht, was bei allen Prozessbeteiligten für Verwunderung sorgt. Deshalb sollen die beiden Frauen als Zeuginnen selbst Licht ins Dunkel bringen, wenn der Prozess am Montag vor dem Hagener Landgericht fortgesetzt wird.
Die beiden Polizisten sind derweil trotz der traumatischen Umstände schnell wieder in den Dienst zurückgekehrt. Beide hatten Schlafstörungen, der 29-Jährige kehrt bis heute in seinen Träumen auf die Mühlenstraße zurück. Da verwunderte es nicht, dass er die Entschuldigung, die Verteidiger Andreas Trode für seinen Angeklagten und dessen schockierende Tat übermittelte, mit den Worten beantwortete: "Das habe ich zur Kenntnis genommen."