Hagen. . Fußball und Ballett haben Gemeinsamkeiten - so sieht es der Hagener Ballettdirektor Ricardo Fernando. Im Interview erklärt der Brasilianer, was Tanz und Fußball eint. Und dass Fußball in Brasilien, wo an diesem Donnerstag die Fußball-Weltmeisterschaft startet, mehr als bloß Sport ist: “wie eine Religion“.
Ein guter Spieler dribbelt nicht nur, er tanzt regelrecht. So lautet das größte Kompliment, das Ricardo Fernando einem Fußballer machen kann. Fernando weiß, wovon er spricht. Denn er ist Ballettdirektor am Theater Hagen. Und Brasilianer. Und Fan. Ein Gespräch über Choreographien auf dem grünen Rasen und auf der Theaterbühne.
Frage: Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Ballett und Fußball?
Ricardo Fernando: Da gibt es viele Gemeinsamkeiten, die haben mit Ausdauer, Athletik und Timing zu tun. Spieler schaffen es heute nicht mehr allein mit Ausdauer und Kraft, sie müssen schneller sein als früher und zudem viel mit Dehnung arbeiten, und da haben wir die längeren Erfahrungen. Bei uns im Ballett tanzen heute ebenfalls Allrounder, die müssen neben Springen und Fliegen auch Fallen und Rollen können. Nehmen Sie im Fußball Givanildo Vieira de Souza, genannt Hulk. Der ist ein Kraftpaket und trotzdem unglaublich schnell, ein toller Spieler und Mensch. Ich hoffe, dass er bei dieser WM Glück hat. Und ich hätte mir gewünscht, dass er nach Dortmund kommt.
"Spieler wie Ronaldo und Messi sind Künstler"
Ist der Rasen also eine Bühne?
Ricardo Fernando: Man nennt Real Madrid „Weißes Ballett“, vielleicht weil die Spieler so gut und harmonisch zusammen agieren wie Tänzer auf der Bühne. Wer hätte gedacht, dass solche Qualitäten einmal im Fußball wichtig werden? Nur mit Kraft gewinnt man kein Spiel mehr, man braucht Sensibilität. Spieler wie Ronaldo und Messi, die machen nicht einfach ihren täglichen Job, das sind Künstler, da ist vom Spiel bis zur Frisur alles präsentiert. Außerdem: Fußball ist heute so international wie das Ballett. Meine Compagnie in Hagen besteht aus 14 Tänzern, die kommen aus zehn Nationen.
Sind sich Choreographen und Fußballtrainer ähnlich?
Ricardo Fernando: Der Fußballtrainer ist sowieso ein Choreograph. Er gibt die Taktik und den Takt vor. Drei rechts, drei links, alle drehen, Seiten tauschen. Wenn ich mir ein Spiel anschaue, versuche ich zu sehen, welche Taktik der Trainer einsetzt und ob die Spieler in der Lage sind, diese Taktik bei Bedarf auch zu ändern. Das sind dann Ähnlichkeiten mit dem Tanz, denn wir müssen bei Vorstellungen oft unsere Taktik live ändern, zum Beispiel wenn sich jemand verletzt, und zwar, ohne dass das Publikum das merkt. Pep Guardiola, Jürgen Klopp, die Trainer von Mainz und Augsburg, die haben ein ganz anderes Kaliber als die anderen, weil sie es ohne große Namen schaffen, das sind moderne Trainer für modernen Fußball. Und Jogi Löw ist ein sehr, sehr guter Trainer, er hat die Fußballgeschichte verändert.
Dass Sie Fußball-Fan sind, merkt man . . .
Ricardo Fernando: Heute bin ich Fan, früher war ich Fanatic, aber total. In Brasilien ist Fußball wie eine Religion. Früher habe ich in Rio vorm Fernseher gesessen und die Spiele meines Clubs Flamengo verfolgt, und gleichzeitig lief das Radio, weil ich unbedingt sofort wissen musste, was die Konkurrenz macht.
Und da hat Ihre Frau nicht protestiert?
Ricardo Fernando: Oh nein. Meine Frau und Assistentin Carla Silva ist ein ebenso großer Fußballfan wie ich. Ihre Wohnung früher in Rio lag direkt gegenüber dem Maracana-Stadion, wo damals schon 180.000 Zuschauer hineinpassten. Wir hatten die ganze Zeit den Torjubel der Spieler in den Ohren. Und wenn ich heute nach Brasilien fliege, ziehe ich schon im Flugzeug mein gelbes Trikot an. Meiner Tochter ist das peinlich, sie sagt dann immer zu mir: „Papa, ich kenne Dich jetzt nicht.“
Haben Sie selbst Fußball gespielt?
Ricardo Fernando: Als Junge ja. Tänzer dürfen keinen Fußball spielen. Das ist wegen der Verletzungsgefahr verboten, das bezahlt keine Versicherung.
"Wir haben leider eine sehr gewalttätige Polizei"
Was bedeutet die WM für Ihr Heimatland Brasilien?
Ricardo Fernando: Carla und ich sind skeptisch. Solche Streiks und Proteste wie jetzt haben wir in Brasilien noch nie erlebt. Man wusste schon vor vier Jahren, dass das Geld in der Korruption versickert, mit dem die Straßen ausgebaut und die Infrastruktur verbessert werden sollte. Es ist schade, dass die Fifa da keinen Druck ausgeübt hat. Vor vier Jahren hätte man noch etwas verändern können. Jetzt freuen sich 70 Prozent aller Brasilianer auf die WM. Aber es gibt die anderen 30 Prozent, die protestieren, und das sind 30 Prozent von 200 Millionen Einwohnern. Ich befürchte, dass es zu Demonstrationen kommt, und wir haben leider eine sehr gewalttätige Polizei.
Aber das Land erhält doch für die WM schöne neue Stadien?
Ricardo Fernando: Warum war es nötig, so viele Stadien zu bauen? Brasilien war immer das Land mit den meisten Stadien der Welt. Warum sind diese nicht renoviert worden? Am neugebauten Stadion in Manaus sind bereits vier Arbeiter zu Tode gekommen, es kostet umgerechnet weit über 200 Millionen Euro, es liegt mitten im Urwald, und nach der WM wird es nicht mehr gebraucht, denn das beste Team von Manaus spielt in der 4. Liga.
Manaus liegt im Amazonasdschungel. Ist es hinterwäldlerisch?
Ricardo Fernando: Vergessen Sie das! Manaus ist eine boomende Millionenstadt, Brasiliens Freihandelszone. Aber war es wirklich notwendig, dass man in Manaus spielt? Das Klima ist mörderisch, und zum Beispiel von Rio aus sind es knapp 3000 Kilometer Luftlinie bis dorthin. Das wird anstrengend für die Spieler.
"Ich freue mich, wenn Deutschland weiterkommt"
Hat Brasilien Titel-Chancen?
Ricardo Fernando: Ich bin positiv überrascht, dass der brasilianische Coach wirklich eine junge Mannschaft organisiert hat. Die alte Elf bestand nur aus Stars dem Namen nach, die waren zu fett, die wollten nur Geld verdienen. Jetzt ist das Team unter 30, das kann wirklich klappen, sie sind sehr fokussiert. Aber wir haben eine schwierige Gruppe.
Sie wirken seit 20 Jahren als Ballettchef und Choreograph in Deutschland. Drücken Sie der deutschen Nationalmannschaft ein bisschen die Daumen?
Ricardo Fernando: Ich freue mich, wenn Deutschland weiterkommt, davon hängen ja nicht nur sportliche Aspekte ab. Und ein Finale Deutschland-Brasilien, das wäre natürlich ideal.
„Der Schrank der Georgi“: Die aktuelle, gefeierte Choreographie von Ricardo Fernando ist am 21. Juni und 4. Juli im Theater Hagen zu sehen. Karten: 02331 / 2073218 oder www.theaterhagen.de