Hohenlimburg. Justin kommt als Kind zu Waltraud Meier. Dann stellt sich heraus: Der Junge hat Hirnschäden. Ein Leben zwischen Liebe und Verzweiflung.

Justin und Waltraud Meier sitzen zusammen am Tisch, vor ihnen eine Schüssel voller Kekse. Sie necken sich und lachen, diskutieren über frühere Streitereien. „Manchmal meckert sie, ich soll den Fernseher leiser machen“, erzählt Justin. Waltraud Meier muss schmunzeln – eine Diskussion, wie sie wohl schon unzählige Mütter mit ihren Kindern geführt haben. Justin Meier ist ihr Pflegekind und das jüngste von insgesamt fünf Kindern, die die 68-jährige Mutter großgezogen hat. Eine leibliche Tochter, vier Pflegesöhne. Das Besondere: Justin hat eine Behinderung.

In der Wohnform „Betreutes Wohnen in Gastfamilien“ der Caritas Hagen betreut Waltraud Meier Justin auch nach seiner Volljährigkeit weiter. Mit vier Jahren ist er in die Familie gekommen, heute ist er 22. Eine Zeit mit Freude und Spaß, aber auch Wut und Tränen.

Das Nesthäkchen der Familie

„Ich wollte immer schon eine große Familie haben“, sagt Waltraud Meier. „Kinder sind das Wichtigste und haben nur das Beste verdient.“ Nachdem ihre Tochter und ihre ersten beiden Pflegesöhne etwas größer geworden waren, beschloss die gelernte Erzieherin, noch ein Kind aufzunehmen – und Jahre später folgte der letzte Sohn. „Das letzte Kleine“, sagte sie damals zu sich. So zog Justin ein. Von seiner Beeinträchtigung wusste man zu der Zeit noch nichts. „Als ich gekommen bin, war es eine Katastrophe“, sagt Justin. Und Waltraud Meier ergänzt: „Es war nicht immer einfach.“

Es ist schwierig. Man muss es gerne machen und sich mal zurücknehmen. Man hat auch schlechte Tage und ist mal am Ende, aber Justin hat so eine sympathische und liebenswerte Art an sich, da vergisst man das ganz schnell.
Waltraud Meier - Pflegemutter von Justin

Diagnose: Gehirnschäden und ADHS

Als Kind war der heute 22-Jährige unkonzentriert und unruhig, wurde schnell wütend. Eine Freundin brachte die Mutter damals auf die Idee, ihn testen zu lassen. Das Ergebnis: Justin hat ADHS, er bekam schnell Medikamente. Sie halfen, aber er brauchte immer noch viel Struktur im Alltag, große Veränderungen waren ein rotes Tuch für ihn, Reizüberflutungen versuchte Waltraud Meier zu vermeiden.

Als Justin dann sieben Jahre alt war, kam die nächste Diagnose: fetales Alkoholsyndrom (FAS). Es entsteht, wenn Mütter während der Schwangerschaft Alkohol trinken. Die Folge ist eine Schädigung des Gehirns: Justin sei und bleibe bei der Entwicklung zurück, er könne lesen sowie ein bisschen schreiben und rechnen, erklärt Waltraud Meier.

Waltraud Meier (68) hat neben Justin noch vier weitere Kinder großgezogen. Seit 2008 ist sie alleinerziehend.
Waltraud Meier (68) hat neben Justin noch vier weitere Kinder großgezogen. Seit 2008 ist sie alleinerziehend. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Ich war dankbar und wesentlich entspannter, als die Diagnose kam“, erinnert sie sich. In der Zeit damals habe sie oft an sich gezweifelt, an ihren Erziehungsmethoden und warum sie bei Justin nicht so recht funktionieren wollten. Die Diagnose war die Antwort auf ihre Fragen. „Es war nicht einfach, ich musste erstmal durchatmen, aber mit dem Befund konnte ich arbeiten. Ich wusste: Das wird ewig so bleiben“, sagt sie – und sie akzeptierte ihn so.

Wohnen in Gastfamilien

Das Betreute Wohnen in Gastfamilien (BWF) ist eine Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. Das Angebot wird vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) als Leistungsträger gefördert.

Die Gastfamilie muss unter anderem für den Gast ein eigenes Zimmer bereithalten und ein einwandfreies erweitertes Führungszeugnis vorlegen, so Andrea Petersein, Fachbereichsleitung bei der Caritas Hagen. Die Caritas Hagen stehe den Familien unterstützend und beratend zur Seite, man sei im regelmäßigen Austausch. Mindestens einmal pro Monat werden Gast und Familie von einem Ansprechpartner der Caritas besucht. Aber: „Die Hauptbetreuung muss die Familie leisten“, betont Petersein.

Durch das Angebot haben Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit die Sicherheit und Sozialisation in einer Familie zu erleben, Teil einer Familie zu sein und einen gewissen Grad an Selbstständigkeit zu erlernen, um zu einem späteren Zeitpunkt in eine andere Wohnform wechseln zu können, fasst Andrea Petersein zusammen. Außerdem bilde das Angebot einen weiteren Schritt in die Gleichberechtigung für Menschen mit Behinderungen.

Die Familien erhalten eine monatliche Vergütung für 742,40 Euro. „Ich rate jedem davon ab, der sich damit den Lebensunterhalt verdienen will. Das ist die falsche Motivation“, betont Petersein. „Man soll den Menschen unterstützen und ihm eine Familie geben wollen.“ Vor allem Menschen, die als Kinder in die Familien kommen, bräuchten ein Zuhause und das Gefühl geliebt zu werden, so die Fachbereichsleiterin.

Defizite und Begabungen

Der heute 22-Jährige hat eine Inselbegabung. Puzzle mit tausenden Teilen löst er schnell und einfach, genauso wie die zahlreichen Bauschritte großer Lego-Modelle. In seinem Zimmer hängt ein 3000-Teile-Puzzle von der Zaubereischule Hogwarts aus Harry Potter, zwei Lego-Nachbauten der Schule und mehrere andere Figuren stehen auf den Regalen. Er kenne jedes der über 1000 Pokémon mit Namen, sagt Justin. Sein Zimmer gleicht einem Museum zu Harry Potter, Star Wars und Pokémon. „Ein Museum, bei dem ich vier Stunden brauche, um alles abzustauben“, witzelt Waltraud Meier.

Justin Meier vor dem Lego-Modell von Hogwarts. Er besitzt allein zwei Modelle der Zaubereischule.
Justin Meier vor dem Lego-Modell von Hogwarts. Er besitzt allein zwei Modelle der Zaubereischule. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Andere Sachen waren ein jahrelanger Kampf“, sagt die 68-Jährige wieder im ernsten Ton. Justin habe viele gravierende Defizite gehabt, musste unter anderem lernen, vernünftig zu essen und seine Wutausbrüche zu kontrollieren. Beim Duschen und Baden musste die Mutter ihrem Sohn erst die Angst nehmen – es habe dabei einen Zwischenfall in der früheren Familie gegeben – und er sei lange nicht in der Lage gewesen, soziale Kontakte aufzubauen. Das habe sich jedoch mit der Zeit deutlich verbessert. Justin schwimme und bade mittlerweile sehr gerne, verabrede sich regelmäßig mit einem Freund und habe auch ein paar Bekannte zu seinem Geburtstag eingeladen. „Ich sehe immer noch, wie er sich weiterentwickelt“, sagt Waltraud Meier.

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Ein wichtiger Teil der Familie

Seit knapp fünf Jahren arbeitet Justin in der Homborner Werkstatt für behinderte Menschen in Breckerfeld in der Abteilung Gartenbau. Die meiste Zeit des Tages verbringe er dort. „Ich darf schon kleine Maschinen bedienen“, erzählt der 22-Jährige stolz. Und dass er immer noch einen guten Kontakt zu seiner leiblichen Mutter habe. „Das ist ein Glücksfall und nicht mit allen Elternteilen möglich“, sagt Waltraud Meier. Doch trotz des guten Verhältnisses und den regelmäßigen Besuchen ist eines klar: Zurückkehren ist keine Option – weder für ihn noch für sie. „Für mich ist sie Mama“, sagt Justin und lächelt Waltraud Meier an. Vor Jahren konnte sie auch seinen Nachnamen ändern lassen. Justin ist somit nicht nur im Herzen, sondern auch auf dem Papier ein echter Meier.

Justin Meier. Mit vier Jahren kam der heute 22-Jährige zu Waltraud Meier, mit sieben dann die Diagnose FAS. Seine Erziehung war nicht immer leicht.
Justin Meier. Mit vier Jahren kam der heute 22-Jährige zu Waltraud Meier, mit sieben dann die Diagnose FAS. Seine Erziehung war nicht immer leicht. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Ein großes Abenteuer

Waltraud Meier wünscht sich, dass mehr Menschen den Mut finden, Kinder und Erwachsene mit einer Behinderung aufzunehmen. „Wenn man den Platz hat, kann man den Menschen so eine Chance geben“, erzählt sie. Aber sie verstehe auch, dass viele Angst hätten, sich zu viel zuzumuten. „Es ist schwierig. Man muss es gerne machen und sich auch mal zurücknehmen.“ Es sei bisweilen anstrengend gewesen. „Man hat auch schlechte Tage und ist mal am Ende, aber Justin hat so eine sympathische und liebenswerte Art an sich, da vergisst man das ganz schnell.“ Justin ergänzt: „Wir vertragen uns auch immer wieder. Nicht jede Familie ist perfekt.“

Es war ein Abenteuer.
Justin Meier - Mit vier Jahren ist er in die Familie von Waltraud Meier gekommen.

Ob Waltraud Meier sich mit dem heutigen Wissen nochmal so entscheiden würde wie damals? Ja, sagt sie mit Nachdruck. „Man hat viele Tage, an denen man ganz viel zurückbekommt.“ Und Justin Meier sagt über die vergangenen Jahre: „Es war ein Abenteuer.“ Waltraud Meier nickt und lächelt ihren Sohn liebevoll an.