Siegerland. Die kleine Mia Stücher hat das Angelman-Syndrom. Oft ist der Alltag mit einem behinderten Kind kompliziert für ihre Eltern. Und oft einfach nur toll.

In diesem Blog schreibt Lisa Mareile Stücher über ihren Eltern-Alltag (zwei Absätze weiter unten). Ihre Tochter Mia Cécilia, 6 Jahre alt, ist behindert: Sie hat das Angelman-Syndrom, einen sehr seltenen Gendefekt. Lange hatten sich die Stüchers ein Kind gewünscht; als Mia da war, stellten sie irgendwann Entwicklungsverzögerungen fest. Mia hatte zum Beispiel Probleme damit, ihren Kopf zu heben. Die Stüchers gingen mit ihr zur Physiotherapie, trotzdem stellten sie keine Verbesserung fest. Auch mit der Lautsprache tat und tut sich Mia schwer. Die Stüchers hatten einen Kinderarzt, der Mia gut kannte, sich sehr für die Familie einsetzte – und als der Mediziner die Stelle wechselte, zogen die Stüchers sogar hinterher. Schließlich, nach einem Gentest, erhielt Mia kurz vor ihrem dritten Geburtstag die Diagnose „Angelman-Syndrom“. „Wir merkten: Vom Kopf her bleibt sie auf diesem Stand stehen. Sie wächst aber“, erklärt Papa Niclas Stücher.

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Sie kennen es nur so. Ihre Normalität ist herausfordernder als der Alltag anderer Eltern. „Man muss immer noch zehn Schritte weiterdenken“, sagt er. An Dinge, an die die allermeisten Eltern niemals einen Gedanken verschwenden müssen – auch, weil es mit der Inklusion an vielen Stellen dann doch nicht so weit her ist. Das Leben der Stüchers ist anders – und nur anders. Nicht besser oder schlechter, anders eben, aber am Ende ganz normal. Davon erzählen sie hier: Vom Alltag mit ihren beiden Kindern. Inzwischen geht Mia in die Schule; alle bisherigen Blog-Beiträge gibt es hier:

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Dankbarkeit: Freude über ein wundervolles Kind - wie schön unser Leben doch sein kann!

Und manchmal kommen Tage der Dankbarkeit. Wir bekommen ein Bild aus der Schule. Mia überglücklich beim Schwimmen. Voll in ihrem Element. Vor wenigen Tagen noch hatten wir die Nachricht von Absencen. Kleine Anfälle, die sie in der Schule hatte.

Und heute: Ein gesundes, fröhliches Kind. Mir schießen Tränen in die Augen. Ich bin berührt. Es ist verrückt, wie schnell die Zeiten und Gefühle umschlagen können. Gerade fährt es mir noch durch Mark und Bein und von einer auf die andere Sekunde hüpft mein Herz.

Ich bin sicher, dass unsere Kinder – unsere Mia – von unserem Gott getragen ist. Er hat sie immer in seiner Hand. Und ich darf warten und erleben, was er mit ihrem und unserem Leben vorhat.

An solchen Tagen merke ich es noch mehr als an allen anderen Tagen, dass ich mit Dankbarkeit erfüllt bin. Die Traurigkeit, die Leere, die Machtlosigkeit - all das, was mich vor ein paar Tagen noch bestimmt hat, ist weg. Stattdessen ist da Dankbarkeit, Frieden, Loslassen, Vertrauen. Freude, über dieses wundervolle Kind. Wie schön unser Leben doch sein kann!

Über Warterei: Immer wieder Verzweiflung, Ohnmacht, Traurigkeit - und Kontrolle abgeben

Heute ist wieder so ein Tag. Wenn „Schule Mia“ im Handydisplay steht, fährt es mir schon durch Mark und Bein. Wir sind mittlerweile geübt im spontanen Umswitchen, Umplanen und schnellem Reagieren auf neue Situationen. Was uns aber immer noch hart zu schaffen macht, sind die Sachen, auf die wir keinen Einfluss haben. Wie gestern.

Ein Anruf und der Tag ist für die Tonne: Mia sei abwesend beim Essen, die Augen verdreht. Reagierte aber auf Ansprache. Anfälle? Absencen? Tagträumerein? Müdigkeit? Fragen fliegen durch den Kopf, der Puls rast und mich erwischt es wieder wie ein Schlag in die Magengrube. Mir ist kotzübel. Aufregung, totale Anspannung. Es ist kaum zu beschreiben. Die Stunden vergingen, bis sie endlich aus dem Schulbus ausstieg. Da gings mir schon ein winziges Bisschen besser. Aber ich wussten schon, was uns heute noch uns bevorsteht.

Ständige Kontrolle. Blicke suchen. Ist sie noch bei Bewusstsein? Verhält sie sich wie immer? Ist was komisch? Totale Überwachung - jede Minute. Im Bett glotzen wir nur auf die Kamera, um ja nichts zu verpassen. Es könnte ja sein, sie krampft. Natürlich schlafe ich nicht, bis mich die Erschöpfung übermannt. Das Kind schlummert ruhig.

Mia Stücher (6) hat das Angelman-Syndrom
Mia Stücher (6) hat das Angelman-Syndrom © Familie Stücher | Privat

Ich habe oft Angst. Angst, etwas zu verpassen. Das Entscheidende zu verpassen. Nicht da zu sein. Nicht verhindern zu können, dass es ihr schlecht geht. Alle habe ich angerufen Kinderarzt und Neurologe, alle. Ihre Anfälle waren immer heftig, das brauche ich nicht nochmal. Und sie erst recht nicht. Die Angst sitzt mir förmlich im Nacken, lässt den Bauch grummeln, schnürt den Hals ab. Könnte sie doch nur mit mir sprechen! Die Verzweiflung darüber kommt immer wieder, Ohnmacht und Traurigkeit. Dieses Nicht-Wissen, Raten-Müssen. Die reinste Detektivarbeit: Was war es jetzt? War überhaupt was? Kommt noch was? Wenn ja, was? Ein Infekt? Ein großer Anfall? Das Rätselraten bringt uns nicht weiter.

Abwarten, rät der Arzt. Und beobachten. Das macht so müde. Es zermürbt! Wir warten andauernd! Wenn sie näselt, warten wir auf einen Infekt. Wenn sie kränkelt, warten wir aufs Fieber. Wenn sie komisch guckt, warten wir auf Anfälle. Es ist einfach nur ätzend und doch bleibt mir nichts anderes übrig. An diesem Punkt muss ich die Kontrolle letztlich abgeben, muss vertrauen, auf unseren himmlischen Vater, der sie so wundervoll geschaffen hat. Ich übe mich darin abzugeben. Und doch geht mein Herz immer mit ihr.

Mia kommt in die Schule: Was für ein Wechselbad der Gefühle!

Dieses Jahr ist das Jahr der Meilensteine. Mia ist 6 geworden und sie kommt in die Schule. Ein kleines i-Dötzchen, ein großes Schulkind. Unfassbar, wie schnell die Zeit vergeht. Bei dem Gedanken daran werde ich ganz sentimental. Lange Jahre haben wir darauf hingearbeitet. Die Zeiten in der Kita schrittweise verlängert, die Fahrten mit dem DRK-Bus geübt. Ich glaube, sie ist so weit. Nur ich muss mich noch an den Gedanken gewöhnen sie so lange wieder in neue, fremde Hände zu geben. Eine Umstellung für sie und für mich.

Lange haben die Stüchers Mias Einschulung vorbereitet. Als es dann so weit ist, fällt das Loslassen dennoch schwer. Umso stolzer sind sie auf ihr großes kleines i-Dötzchen!
Lange haben die Stüchers Mias Einschulung vorbereitet. Als es dann so weit ist, fällt das Loslassen dennoch schwer. Umso stolzer sind sie auf ihr großes kleines i-Dötzchen! © Privat | Familie Stücher

Die Tage vor der Einschulung wurde ich immer nervöser. Am Tag selbst ging es so weit, so gut. Ich habe mich selbst überrascht, als bei der Einschulungsfeier nur ein kleines Tränchen meinem Augenwinkel entwich, als Mias Mitschüler als Willkommen ein herzergreifendes Lied gesungen und gebärdet haben. So eine Ruhe, eine Liebe und Wohlfühlatmosphäre herrscht in Mias Schule. Es war so toll! Am Abend schwang all meine gefühlte Tapferkeit um in Nervosität vor dem ersten richtigen Schultag.

Es war ein Kaltstart. Direkt morgens früh Abfahrt mit dem DRK-Bus zur 45 Minuten entfernten Schule und nach vollem Schultag mit Unterricht bis 15.30 Uhr, anschließend wieder mit dem Bus-Transport zurück. Mia würde einen harten Tag haben. Und ich auch. Ich war dankbar, dass mein Mann frei hatte und wir Mia gemeinsam verabschiedeten und versuchen wollten, uns den ganzen Tag abzulenken. Doch bei Schließen der Bustüren hielt meine bis zuletzt hochgehaltene Stimmung Mias Blick nicht mehr Stand. Sie sah mich mit Tränen in den Augen und runter gezogenen Mundwinkeln an und fuhr offensichtlich traurig und verwirrt weg. Alle Bäche brachen und ich heulte erstmal alles raus. Es war schwer. Dass es schwer würde, das wusste ich. Aber in diese traurigen Augen zu blicken, tat mir richtig weh.

Mia Stüchers Schule ist zum Glück mit neuester Technik ausgestattet. Das kann auch helfen, besorgte Eltern zu beruhigen.
Mia Stüchers Schule ist zum Glück mit neuester Technik ausgestattet. Das kann auch helfen, besorgte Eltern zu beruhigen. © Privat | Familie Stücher

Ein Segen ist diese Schule, denn dank neuster Technik und der Schul Cloud erhielt ich schon am frühen Nachmittag Rückmeldung, dass Mias erster Schultag erfolgreich war. Sie war fröhlich und zufrieden. Endlich konnte ich wieder Aufatmen. Wir hatten den ganzen Tag unter Anspannung verbracht, uns abgelenkt und doch immer wieder an Mia gedacht. Würde sich ihre Stimmung verändert haben? Würde sie die Schule und Mitschüler wiederkennen? Würde sie sich wohl fühlen? Sich wickeln lassen? Würde man sie mit ihrer Mimik und Gestik verstehen? Ein Stein fiel uns vom Herzen, als wir ein Bild von ihr sahen, glücklich und erhellt, wie wir sie kennen.

Ich stand am Fenster und wartete auf den Bus, als das Handy klingelte und der Busfahrer von Mia mitteilte, einen Unfall gehabt zu haben. Wir müssten Mia abholen, aber keiner sei verletzt. Wir düsten sofort los und trafen ein glückliches, unverletztes und starkes Schulkind vor. War das ein Tag! Ein Wechselbad der Gefühle. Sorge, Angst, Anspannung, Freude. Ruhe, Aufregung. Ganz viel Dankbarkeit! Sie hatte den ersten Schultag gemeistert! Und wir auch! Was ein Meilenstein. Wir sind so stolz auf dich, I-Dötzchen!

Unsere Mia wird 6 – ein wundervoller Geburtstag!

Unsere Mia wird 6. Das ist schon was Besonderes. Wir haben uns also entschlossen, mutig zu sein und ihren Geburtstag nicht nur mit der Familie zu feiern, sondern ihr ebenfalls einen Kindergeburtstag auszurichten. All die Jahre bisher waren wir mit der Idee eines Kindergeburtstages überfordert. Ich hatte keine Idee, was wir mit den Kindern machen sollten. Die typischen Sachen wie Schnitzeljagd, Topfschlagen oder Mehlschneiden sind kognitiv nichts für Mia. Und ganz sicher mache ich so etwas nicht, wenn sie nur daneben sitzt und den anderen nicht beeinträchtigten Kindern dabei zu sieht. Es geht schließlich um ihren Geburtstag. Wir feiern sie!

Mia fährt mit Papa Niclas und ihren anderen Gästen in den US-Boliden mit.
Mia fährt mit Papa Niclas und ihren anderen Gästen in den US-Boliden mit. © Privat | Familie Stücher

Dieses Jahr hatten wir viele Kontakte zu anderen Kindern mit Angelman Syndrom. Die Kinder verstanden sich auf Anhieb, wir Eltern hatten eine unsichtbare, innige Verbindung. Auf einmal war uns klar, dass wir mit diesen Familien Mia einen tollen Geburtstag gestalten konnten.

Bei Mias Kindergeburtstag waren die US-Einsatzfahrzeuge zu Gast - das war natürlich der Knaller für die Kleinen.
Bei Mias Kindergeburtstag waren die US-Einsatzfahrzeuge zu Gast - das war natürlich der Knaller für die Kleinen. © Privat | Familie Stücher

Als der große Tag endlich kam, regnete es wider Erwarten mehr oder weniger den ganzen Tag. Doch unsere Stimmung war grandios! Kein Regentropfen konnte uns von Spaß und Ausgelassenheit abhalten. Die Angelman-Kinder hatten so viel Spaß! Die Geschwisterkinder, die Eltern. Wir alle haben die Zeit genossen. Wir haben gut gegessen, viel geredet, gelacht, getobt und Freude erlebt. Mia war so glücklich, es war ein Fest.

Mia feiert ganz normal Geburtstag - und das ist irgendwie auch etwas Besonderes.
Mia feiert ganz normal Geburtstag - und das ist irgendwie auch etwas Besonderes. © Privat | Familie Stücher

Unser Special Guest waren die bekannten US Einsatzfahrzeuge aus Altenkirchen, die sofort zusagten, unserer Mia und ihren kleinen Gästen die Geburtstagssause zu versüßen und kamen mit ihrem dicken Autos und blinkten vor der Haustür um die Wette. Es war ein leichter Tag. Voll Freude, voll Zuversicht, voll Genuss. Herrlich normal. Ein besonderer und wunderbarer Kindergeburtstag.

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Eine Angelman-Mama, die diesen Tag mit uns verbrachte, sagte mir im Nachhinein, dass sie sich sehr wohl gefühlt hat. Das erste Mal auf einer solchen Veranstaltung, wo sie sich insgeheim nicht gefragt hat: „Was mach ich eigentlich hier?“ oder „Wann können wir endlich nach Hause?“ Das war ein unsagbares Lob für uns; für einen ersten wundervollen Kindergeburtstag unseres Kindes mit Behinderung. Mia wir feiern dich!

Und in 365 Tagen werden wir ganz sicher wieder einen so tollen Tag gemeinsam erleben.