Hagen. Der Keil wird bei Brocksieper zum Ursymbol. Sein Vater Heinrich Brocksieper wurde am Bauhaus zum Pionier der Industriefotografie
Eine Keimzelle der Avantgarde hat in der Hagener Alleestraße überdauert, die einst ein blitzblankes kleinbürgerliches Viertel war. Eisenbahner, Schuster und andere Handwerker lebten hier. Heute wird die Alleestraße häufig im Zusammenhang mit gescheiterter Migration zitiert. Und doch befindet sich dort immer noch jenes Haus, in dem der Bauhaus-Künstler Heinrich Brocksieper zum Pionier der experimentellen Fotografie wurde. Darin hat er seinem jüngeren Freund Emil Schumacher in dunkelsten Jahren sein Wissen über die – unter den Nazis verbotenen – Maler und Bildhauer des Bauhauses vermittelt. Und dort lebt heute sein Sohn, der Bildhauer Utz Brocksieper. Zum 85. Geburtstag widmet das Hagener Emil-Schumacher-Museum dem bescheidenen, aber bedeutenden Meister eine große Werkschau, die am 4. Februar eröffnet wird.
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Der Atelierbesuch wird zur Zeitreise, er öffnet das Verständnis für die Bedingungen, unter denen die Moderne in der Region gleich zweimal entstehen konnte, nach der Jahrhundertwende und nach 1945. Im Jahr 1902 errichtet Karl Ernst Osthaus das weltweit erste Museum für Moderne Kunst in Hagen; Künstler wie August Macke und Henri Matisse pilgern dorthin. In der wirtschaftlich aufstrebenden Industriestadt herrscht eine elektrisierende Aufbruchstimmung. Es ist nicht selten, dass die Söhne der eingesessenen Handwerkerfamilien hauptberufliche Künstler werden.
Brocksieper folgt Lyonel Feininger
So auch Heinrich Brocksieper. 1919 zeigt Lyonel Feininger seine erste große Ausstellung überhaupt - in Hagen. Sie verändert das Leben des jungen Brocksiepers; noch im selben Jahr folgt er Feininger ans Bauhaus, als erster Hagener Künstler. Er wird zu einem Pionier der Industriefotografie und zu einem Experimentalfilmer. Sein Nachlass liegt am Bauhaus in Dessau und Weimar, das Karl-Ernst-Osthaus-Museum seiner Heimatstadt besitzt kein Werk von ihm.
Sohn Utz Brocksieper erzählt so lebendig von seinem Vater, dessen Erbe er verwaltet, dass man leicht vergisst: Der Sohn ist ebenfalls ein wichtiger Künstler, ein bedeutender Vertreter der Nachkriegs-Bildhauerei. Brocksiepers Material ist das Eisen. Auch das schlägt Brücken zurück in die Geschichte der Stadt Hagen, wo die Brocksiepers seit Jahrhunderten ansässig sind, zunächst als Kettenschmiede, dann als Kunstschmiede. „Das Eisen liegt mir im Blut“, sagt er.
Aber die Wahl des robusten und schwer vergänglichen Materials kann auch als Reflex auf die Schrecken des Krieges gelesen werden. Denn das Atelier des Vaters geht nach einem Bombenangriff 1944 in Flammen auf, die einen großen Teil des Werks vernichten. Nur 75 Fotografien und vier Filme in Sequenzen sind erhalten. Diese gelten heute international als herausragende Zeugnisse.
Utz Brocksieper setzt der Vergänglichkeit Zeichen und Landschaften aus Stahl entgegen. Seine Form ist der Keil, das Urwerkzeug der Menschheit, die älteste aller Erfindungen. Der Keil kann Dinge verändern, aber auch zerstören. Darin ähnelt er dem Künstler, dessen Auftrag ebenfalls die Verwandlung ist. Der Keil bricht auf, und aus dieser Kraft gestaltet Utz Brocksieper im Sinne des Wortes Aufbrüche, bei denen aus der Veränderung Neues entstehen kann. Einer der Aufbrüche ist eine Performance: „Der Weg des Christoph Columbus“ zum Kolumbus-Jahr 1991. Den Wegstationen des Seefahrers folgte Brocksieper mit einer transportablen Skulptur, einem 3,50 Meter hohen Keil aus roten Metallstangen. „Der transparente Keil greift in den Raum, umgreift den Raum, wirkt wie ein Segel oder Schiffsburg“, erläutert er.
Eine weitere Skulptur spiegelt sich derzeit ebenfalls in Rot in der Glasfassade des Hagener Kunstquartiers: ein Keil, der in vier Keile aufgefaltet ist. Die Arbeit hat Brocksieper 2003 für den Gartenbereich von Haus Auerbach in Jena geschaffen, dem ersten Wohnhaus, das 1924 nach den Plänen des von Walter Gropius am Weimarer Bauhaus entwickelten Baukastenprinzips realisiert wurde. Brocksieper hat den Skulpturenpark Pampin mitbegründet, dort sind seine Arbeiten zu sehen und auch im Skulpturengarten Weißer Hirsch. In Hagen ist Brocksiepers Werk in einer Großplastik für die Heinrich-Heine-Realschule präsent. Eine Keil-Skulptur für das Freilichtmuseum Hagen existiert nicht mehr; ein Brunnen, den er im Auftrag von Stadtbaurat Manfred Osthaus am heutigen Eilpe-Zentrum schuf, steht zwar in der Form noch, ist aber nicht mehr in Funktion. Das Osthaus-Museum besitzt zwei Arbeiten von ihm, eine davon ist verschollen.
Nach dem Krieg ist alles kaputt
Wenn Utz Brocksieper aus seiner Kindheit erzählt, wird greifbar, wie schwer es die Künstlergeneration des modernen Aufbruchs hatte. Denn sein Vater, der als Soldat in zwei Weltkriege geschickt wird, hält sich wie Emil Schumacher von den Nazis fern. Atelierbesuche und Ausstellungsanfragen lehnt er ab. Stattdessen führt er mit seiner Mutter das familiäre Farbengeschäft in der Alleestraße. Nach dem Krieg ist dann an Fotografieren gar nicht zu denken, es gibt nichts, keine Filme, keine Chemikalien, und es muss Essen auf den Tisch. Brocksieper sen., der weiter mit seinem Lehrer Feininger in New York korrespondiert, besinnt sich auf das Zeichnen. Zusammen mit Emil Schumacher stellt der Bauhaus-Pionier Zeichenkohle aus dem Holz des Pfaffenhütchens her. „Brocksieper war der einzige in Hagen, von dem Schumacher in dieser schlimmen Zeit etwas lernen konnte“, unterstreicht Rouven Lotz, der Direktor des Emil-Schumacher-Museums.
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„Es war alles kaputt in Hagen, es gab nichts zu essen, da habe ich eine Lehre als Maschinenbautechniker gemacht“, schildert Utz Brocksieper seinen Werdegang. Nach dem Tod des Vaters studiert er dann Bildhauerei an der Folkwang Hochschule in Essen und an der Kunsthochschule in Stuttgart. Als langjähriger Vorsitzender des Westdeutschen Künstlerbundes kann er die zeitgenössische Kunst in NRW prägend fördern.
Brocksiepers Partnerin Dagmar Turk, die Witwe des Farbmalers Armin Turk, ist ebenfalls in der Alleestraße aufgewachsen. Sie beschreibt den seelischen Hunger der Zeit, der genauso quälend war wie der körperliche Hunger. „Dieses Elend nach dem Krieg. Alles war grau und hässlich. In den zerstörten Häusern hingen Säcke vor den Klotüren auf halber Treppe. Meine Mutter ist mit mir ins Museum gegangen, und als ich die Bilder gesehen habe, habe ich mir gesagt. Du willst mit nichts anderem zu tun haben als mit Kunst.“
Die Sehnsucht nach Licht, Farbe und Schönheit prägt die Kriegskinder fürs ganze Leben. Sie prägt auch den Künstler Utz Brocksieper. Der fängt manchmal sogar das Licht des Himmels ein. Mit seinen aufgefalteten Stahlkeilen.
Ausstellung: Utz Brocksieper: Skulpturen – Zeichen und Eingriffe. 4. Februar bis 27. Oktober im Emil-Schumacher-Museum Hagen. www.esmh.de