Hagen. Gesellschaftliche Debatten entgleisen. Gleichzeitig reibt sich das Land in absurden Kulturkämpfen auf. Kann eine Leitkultur helfen?
Tannenbaum-Pflicht? Gender-Sternchen? Winnetou-Verbot? Die Nation scheint sich angesichts der zeitgenössischen Krisen in absurde Kulturkämpfe zu flüchten. Eine Ursache dafür ist möglicherweise der Verlust traditioneller Werte, und zwar schon seit Jahrzehnten. Solange die Dinge gut liefen, vollzogen sich diese Kulturbrüche gleichsam unbemerkt. Seit Frieden und Wohlstand gefährdet sind, kommen Werte wieder in Mode, allerdings fehlt das gemeinschaftsstiftende Fundament, denn der Kulturverlust ist vielfach bereits vollzogen, und zwar selbstverursacht, nicht als Folge der Zuwanderung. Aggressivität, Verrohung und Polarisierung prägen zunehmend das gesellschaftliche Klima. Deutschland braucht dringend eine neue Leitkultur. Wie kann das gelingen, wo die Ideen, was Leitkultur sein kann, genauso umstritten sind wie das Thema selbst? Eine Spurensuche.
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Der jüngste Tannenbaum-Streit, den hochrangige Politiker befeuerten, ist ein gutes Beispiel. „Wenn wir von Leitkultur sprechen, von unserer Art zu leben, dann gehört für mich dazu, vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum zu kaufen“, sagte zum Beispiel Friedrich Merz im Interview mit unserer Redaktion. Wer wollte ihm da widersprechen? Tatsächlich sollte aber die Krippe zu unserer Lebensart gehören. Dass der Christbaum zum Subjekt der Leitkultur definiert wird, ist in Wahrheit ein Beleg für einen bereits vollzogenen Kulturverlust. Denn in einer säkularisierten Gesellschaft ist von der Idee des Christfestes offenbar nur die Dekoration übrig geblieben. Die Christen beten Weihnachten ja nicht den Tannenbaum an. Sie feiern das Wunder, dass Gott den Bund mit seiner Schöpfung bejaht, indem er seinen Sohn Mensch werden lässt, ein hilfloses Kind, in Armut geboren, heimatlos und auf der Flucht.
Die Bedeutung von Weihnachten
Doch das Wissen um die Bedeutung von Weihnachten ist bereits in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung geschwunden, weil Religion und Kirche nicht mehr zum Alltag gehören. Geblieben sind Reste des Eigentlichen wie die Dekorationen und Bräuche, etwa das Schenken.
An einem Beispiel aus dem Ende der Römerzeit lässt sich verdeutlichen, was gerade bei uns passiert. Die Römer hatten im Rheinland einen hoch entwickelten Bergbau etabliert. Als das systemtragende Militär sich zurückzog, zerfielen Verwaltung und Infrastruktur, das Wissen ging rasch verloren. Der germanische Opa hatte vielleicht im Bergbau gearbeitet, besaß noch die Lederkapuze mit dem Lederumhang, die den Nacken schützte, und den Gürtel mit der Laterne. Schon die Enkel konnten mit seinen Erzählungen kein reales Bild mehr verbinden. Der römische Bergbau sank ab ins Reich der Sagen. Aus Bergleuten wurden im Verlauf weniger Generationen die Heinzelmännchen.
Die Glocken müssen weg
Dazu ein Beispiel aus der Gegenwart: Ein deutsches Ehepaar wandert in die Schweiz aus, weil der Mann dort eine gut bezahlte Arbeitsstelle findet. Die Eheleute lassen sich in einem Dorf nieder und fühlen sich auf der Stelle von den Kühen des benachbarten, seit Generationen ansässigen Hofs gestört, die, wie es in der Kultur des Einwanderungslandes üblich ist, Glocken um den Hals tragen. Die Glocken müssen weg. Die deutschen Einwanderer bringen ihre Wertvorstellungen mit in die neue Heimat und möchten sie um jeden Preis durchsetzen. Das Ehepaar klagt überdies über Rassismus, Deutsche hätten in der Schweiz einen schlechten Ruf.
Demokratie und Menschenrechte
Wenn über eine deutsche oder sogar europäische Leitkultur diskutiert wird, fällt der Name des Politologen Bassam Tibi. Der Professor hat den Begriff erfunden, um sozusagen eine Hausordnung für Menschen aus verschiedenen Kulturen in einem wertebasierten Gemeinwesen zu formulieren. Dabei stellt er folgende Werte in den Mittelpunkt: Demokratie, Trennung von Kirche und Staat, Menschenrechte und Zivilgesellschaft, also Engagement für das Gemeinwohl, das weder profitorientiert noch abhängig von parteipolitischen Interessen ist.
Leider hat sich das Konzept der Hausordnung nicht durchgesetzt. Stattdessen wird Leitkultur als politischer Kampfbegriff eingesetzt, oft in populistischer Absicht. Bei der Diskussion darüber fällt schnell auf, dass Menschen gleicher Staatsangehörigkeit völlig unterschiedliche Vorstellungen darüber haben können, was zu einer Leitkultur gehört. Vor allem aber ist interessant, dass die eigentliche Kultur sowie die christliche Prägung des viel beschworenen Abendlandes in diesem Zusammenhang fast keine Rolle mehr spielen, obwohl sich hier die Kulturverluste und Kulturbrüche am auffälligsten manifestieren.
Angst vor Kulturverlust
Diese selbst erzeugten Kulturverluste erzeugen ein Unbehagen, das aber diffus bleibt und nicht benannt werden kann. Das Unbehagen wird zur Angst, wenn der eigene Sozialraum bedroht scheint, weil man zwar den Verlust spürt, aber keine Strategie findet, gegenzusteuern. In Krisenzeiten verstärkt sich das Unbehagen, und bestimmte kulturelle Relikte werden zu symbolischen Platzhaltern. Wer heute den Tannenbaum beschwört, meint tatsächlich nicht das Kind, das geboren wurde. Er meint Plätzchenduft und Lichterglanz, Besinnlichkeit und vielleicht auch Kaufrausch, die Sehnsucht nach Zuhause und Sicherheit. Populistische Parteien instrumentalisieren dieses Unbehagen. Sie machen fast ausschließlich über Kulturkämpfe Politik und nicht mit sachlichen Konzepten.
Das Kinderlied verschwindet
Beim deutschen Volkslied, Kinderlied und Weihnachtslied ist der Kulturverlust am gravierendsten. Selbst praktizierende Katholiken schaffen mit Mühe noch die erste Strophe von Stille Nacht. Seit Generationen enthalten wir Kindern flächendeckend ihr Lied-Erbe vor, obwohl zahlreiche Studien belegen, wie wichtig das Singen für die kognitive, sprachliche und psychosoziale Entwicklung ist. Aktiv Singen lässt sich offenbar nicht mehr in den Alltag einbauen. Dabei ist die integrative Kraft des Singens enorm, denn Lieder können Heimat schaffen und auch Sicherheit und Geborgenheit in schweren Zeiten vermitteln.
Auch das Tischgebet gehört auf diese Liste. Fast alle Religionen danken vor dem Essen dafür, dass der Tisch gedeckt ist – was in Deutschland erst seit rund 70 Jahren den Normalfall darstellt. Doch in den säkularen westlichen Überfluss-Gesellschaften ist das Tischgebet fast verschwunden. Der volle, ja übervolle Teller gilt als Selbstverständlichkeit, Nahrung wird wegen ihrer allgegenwärtigen Verfügbarkeit zum Wegwerfartikel. Das bringt einen ganzen Rattenschwanz an Werteverlust mit sich, darunter Respektlosigkeit gegenüber dem Tier, das sein Fleisch gibt, damit der Mensch satt wird und dafür eine gute Behandlung verdient, und Respektverlust vor den Bedingungen des Ackerbaus. Felder und Wiesen werden wie selbstverständlich zertrampelt oder mit Hundekot verseucht.
Spricht man mit Freunden oder Nachbarn darüber, welche Werte eine Leitkultur ausmachen könnten, kommen spontan wichtige Antworten wie Respekt und Betragen. Schnell wird dann im Gespräch deutlich, dass sich das Stichwort Leitkultur mit einem gewissen Heimatbewusstsein verbindet oder präziser: mit dem Gefühl von Entfremdung in einem Zeitalter, in dem der Konsum zu Religion wird. Daran könnte eine neue Leitkultur ansetzen.
Und auch die Zehn Gebote
Im Prinzip haben die Gesellschaften des Abendlandes schon seit über 2000 Jahren eine Leitkultur, die vernünftig regelt, wie der Mensch mit dem Transzendenten und seinen Mitmenschen gut klarkommt. Diese Leitkultur heißt: Die zehn Gebote.
Gegen Verlustängste hilft übrigens am sichersten ein Engagement im Sinne der Zivilgesellschaft. Wer sich im Ehrenamt kümmert, ist besser verwurzelt, wenn die Veränderungen kommen.