Hagen. Hinter den Missbrauchs-Skandalen der Katholiken konnten sich die Protestanten lange verstecken, zu lange. Warum das nicht mehr funktioniert.

Evangelische Pfarrer dürfen heiraten und Familien gründen, katholische Priester nicht. Dieser vielleicht augenfälligste Unterschied zwischen den Konfessionen ist für die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch durchaus relevant. Lange Zeit konnte sich die Evangelische Kirche in Deutschland hinter den Skandalen der Katholiken verstecken, wenn es um Missbrauch ging. Man war der Auffassung, dass die synodalere und damit demokratischere Verfasstheit der protestantischen Institutionen und eine institutionelle Betroffenheitsattitüde eine ähnliche Katastrophe von vorneherein ausschließen würde.

Begünstigende Strukturen

Auf der anderen Seite haben die qualvollen Debatten um Missbrauch begünstigende Strukturen und Machtverhältnisse der Katholiken vielen protestantischen Betroffenen erst Mut gemacht, ihr erlittenes Leid zu melden. Im Januar wird nun die erste Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche in Deutschland erwartet. Betroffene gehen davon aus, dass es sich um ähnlich erschütternde Fallzahlen handeln wird wie bei den Katholiken. Die bisherigen Fälle zeigen, dass ein großer Teil der Betroffenen in Einrichtungen der Diakonie zum Opfer wurde. Die Angst ist groß.

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Dabei waren die Protestanten früher als alle anderen Institutionen gezwungen, sich mit Missbrauch zu beschäftigen. Psychoterror und Gewalt in Kinderheimen und Kureinrichtungen in der Nachkriegszeit sowie den 1960er und 1970er Jahren sind bereits seit der Jahrtausendwende in der Aufarbeitung. Dabei ließ sich auch musterhaft erkennen, wie Missbrauch neuen Missbrauch erzeugt. Denn viele der Diakonissen, die unter anderem in den Behindertenheimen zu Täterinnen wurden, hatten zum Ende der Naziherrschaft selbst Gewalt erlebt, waren von russischen Soldaten vergewaltigt worden, Traumata, die nie aufgearbeitet und daher weitergegeben wurden.

Autoritäre Machtstrukturen

Dabei wurden auch Faktoren offengelegt, die systemisch Missbrauch begünstigen: Abgeschottete Einrichtungen mit wenig externen Kontakten oder Kontrolle, stark autoritätsfixierte Machtstrukturen, Legitimation von Handlungen und Entscheidungen als gottgewollt, große Abhängigkeitsverhältnisse. Solche Aspekte begünstigen in allen Systemen Missbrauchstäter, ob Sportverein, katholische Kirchengemeinde oder Armee.

Dennoch ist es der Evangelischen Kirche lange gelungen, das Thema zu verdrängen, das neben der Diakonie vor allem geistliche Gemeinschaften betrifft. Die Christusträger Bruderschaft etwa veröffentlichte im Oktober einen Bericht zu jahrelangem sexuellen, geistlichen und Machtmissbrauch in den eigenen Reihen, wie das Nachrichtenportal evangelisch.de gemeldet hatte. Demnach hatte der erste Prior der ev. Kommunität über Jahrzehnte Mitbrüder teils schwer sexuell missbraucht, einige Opfer wurden selbst zu Tätern. Die Vorwürfe waren über 25 Jahre bekannt, aber man habe aus Angst und Scham geschwiegen.

Die erste Studie erst im Januar 2024

So kommt es, dass nun erst im Januar 2024 eine erste wissenschaftliche Missbrauchsstudie erwartet wird, während in der katholischen Kirche das Thema seit 2010 öffentlich ist und die erste breit angelegte Missbrauchsstudie 2018 erschien; seither haben fast alle Bistümer eigene Untersuchungen in Auftrag gegeben.

In der katholischen Kirche wird seither sehr erbittert darüber gestritten, welche Verantwortung das System Kirche trägt. Zur Schuld der katholischen Institutionen gehört es, dass zahlreiche Missbrauchstäter als solche früh bekannt oder sogar strafrechtlich aktenkundig waren, die Kirche diese Täter aber nicht aus dem Verkehr zog, sondern immer weiter versetzte, oft in andere Diözesen, so dass diese Männer ungehindert eine Spur des Grauens nach sich ziehen konnten. Wenn Bischöfe und andere hohe Diözesankleriker davon wussten, welche Mitschuld tragen sie, obschon sie nicht selbst Täter sind, und welche Verantwortung müssen sie übernehmen? Diese Frage ist der Hintergrund der Rücktrittsforderungen unter anderem gegenüber Kardinal Woelki.

Falsche Sicherheit

Davor fühlte man sich in der evangelischen Kirche geschützt, weil die Hierarchien flacher sind, die Machtfülle Einzelner mutmaßlich nicht so groß und die Gemeinden und Kirchenkreise demokratischer verfasst. Und doch scheinen sich auch in diesen Milieus systemische Abhängigkeiten etabliert zu haben, die zu Missbrauch einluden und einladen. Ähnlich wie bei der katholischen Kirche wurden die Hilferufe der Betroffenen überhört, wohl, weil Missbrauch aus anderen Gründen jenseits der Vorstellungswelt lag. Bei den Katholiken war es noch in den 90er Jahren nicht denkbar, dass der Herr Pastor etwas Falsches tut. Die evangelische Kirche setzte sich in den 80er und 90er Jahren engagiert und völlig zu Recht für die Anerkennung unter anderem von homosexuellen Lebensentwürfen ein. Kritik an sexuell übergriffigen Handlungen durch den Jugendleiter gegenüber männlichen Jugendlichen wurde damals eher als Angriff eben auf diese Lebensentwürfe gewertet denn als Übergriff. Diese Stimmungslage wurde von vielen Tätern ausgenutzt. Das ist ein Befund, dem sich neben der Kirche auch die queere Community stellen muss. Sie zu konstatieren, bedeutet nicht, unseriöse, hetzerische Verbindungen zwischen Homosexualität und Missbrauch herzustellen.

Denn, das haben die Erfahrungen der katholischen Kirche gezeigt, das Thema Missbrauch verweigert sich vorschnellen Rückschlüssen und Klischees auf Stichworte wie Zölibat und sexuelle Orientierung. . Es kommt auch vor, dass verheiratete Familienväter männliche Kinder missbrauchen.

Die Problematik der Täter

Zur besonderen evangelischen Problematik gehört eben auch die Tatsache, dass viele Täter verheiratet waren und sind, Familie haben und zusammen mit den Betroffenen in relativ engen sozialen und spirituellen Gemeinden lebten und leben. Das stellt die Aufklärung vor fast unlösbare Probleme. Denn auch Beschuldigte haben Rechte. Und deren Kinder haben noch mehr Rechte. Katholische Pfarrer kann man in solchen Beschuldigungssituationen relativ einfach zur Besinnung ins Kloster schicken. Bei Mitarbeitern der ev. Kirche geht das nicht. Der 2020 wegen Missbrauchs in einer christlichen Jugendgruppe im Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg beschuldigte Mann wurde tot aufgefunden, Ermittler gehen von Suizid aus. Solche tragischen Ereignisketten unbedingt zu vermeiden, gehört ebenfalls zur Führungsverantwortung auf Gemeinde-, Kirchenkreis- und Landeskirchenebene.

Was die Beteiligung der Betroffenen betrifft, kommt es in beiden Konfessionen vielfach zu Konflikten. Derzeit streiten die Protestanten um ein einheitliches Verfahren zur finanziellen Anerkennung des Leids in den 20 selbstständigen Landeskirchen. Eine Kombination aus Beauftragtenrat und Betroffenenrat scheiterte nach internen Konflikten 2021. Seit 2022 gibt es ein neues Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt, in dem Kirchenvertreter und Betroffene gemeinsam entscheiden. Dieses Beteiligungsforum soll das zentrale Gremium auf EKD-Ebene für Diskussionen, Fragen der Entschädigung, Aufarbeitung und Prävention werden.