Meschede. Unterwegs im Hackerland: Was Kfz-Schildermachern, Autofahrern und Verwaltungsmitarbeitern in diesen Tagen so alles widerfährt.

Von außen betrachtet, sagt Michael Becker-Rasche, sei sein Fahrzeug deutscher Ingenieurskunst rostfrei. Aber: „Unten drunter ist alles in den Fritten“, so der Sauerländer. Mit anderen Worten: Alarmstufe Rost. Der TÜV hat jetzt eine fast 300.000 Kilometer währende Mensch-Auto-Verbindung geschieden.

Mehr als 70 Kreise und Kommunen in der Region betroffen

„Mein Wagen ist sang- und klanglos durchgefallen“, sagt Michael Becker-Rasche. Aber es kommt noch dicker: Wegen des Hackerangriffs auf die Südwestfalen-IT, Dienstleister für mehr als 70 Städte, Gemeinden und Kreise in der Region, kann er seinen vor Tagen erworbenen gebrauchten Neuen nicht anmelden. Der schicke Silberne muss zunächst beim Händler bleiben. Wie so viele Neu- und Gebrauchtwagen in der Region.

„Ich bin besonders betroffen“, klagt Autobesitzer Becker-Rasche. Er ist für den Weg zur Arbeit auf einen Pkw angewiesen, in seiner Not hat er auf der Facebook-Seite „Du bist Arnsberger“ die virtuellen Freunde gefragt: „Hat einer eine Idee, wie man im Moment ein Auto angemeldet bekommt?“

Michael Becker-Rasche wartet darauf, dass sein neuer Pkw zugelassen werden kann.
Michael Becker-Rasche wartet darauf, dass sein neuer Pkw zugelassen werden kann. © Privat | Michael Becker-Rasche

Gut 60 Kilometer weiter spürt auch Ramon Luges die Auswirkungen des Cyberangriffs. Der 28-Jährige ist der Chef des Zulassungs- und Schilderdienstes zula.24.de, sein Ladengeschäft befindet sich gegenüber dem Kreishaus des Hochsauerlandkreises in der Mescheder Steinstraße. Für eine Servicegebühr von 20 Euro übernimmt Luges für Kunden den Gang zur Zulassungsstelle und prägt die Pkw-Kennzeichen (Kostenpunkt: 22 Euro).

Geschäftsmodell zusammengebrochen

„Mein Geschäftsmodell ist komplett im Eimer“, sagt der Jung-Unternehmer. Nichts geht mehr rund um Pkw-Zulassungen im HSK. „Ich habe in diesem Monat praktisch nichts verdient“, klagt Luges. Die Erlöse aus dem von ihm in den Räumen ebenfalls betriebenen DHL-Paketshop seien nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Die Hackerattacke hat uns alles genommen, was wir zum Arbeiten brauchen. Wir arbeiten wieder wie vorgestern. Analog statt digital.
Ulrich Berghof, Bürgermeister von Drolshagen

Also hat der Sauerländer viel Zeit, dem Reporter das Herstellen eines Pkw-Schildes zu zeigen: An der grünen Prägemaschine werden zunächst mit sehr hohem Druck die geforderten Nummern und Buchstaben in einen Rohling gepresst. Anschließend wird das Schild an einer weiteren Maschine mit reflektierender Folie beklebt. Experten sprechen von einem Heißprägeverfahren. Auf diese Weise ist ein neues Kennzeichen innerhalb einer Minute fertig.

Zweimal ist der derzeit verhinderte Schildermacher zuletzt für Kunden zur Zulassungsstelle im gut 60 Kilometer entfernten Hamm gefahren. Die Großstadt im Ruhrgebiet leistet den nahen Kreisen HSK und Soest Amtshilfe. In den Räumen der Stadtverwaltung können Kurzzeitkennzeichen (5 Tage gültig) und Ausfuhrkennzeichen (30 Tage gültig für den Export ins Ausland) ausgestellt werden, aber keine Dauerkennzeichen – und schon gar nicht mit HSK-Kennzeichen.

Mehr zum Thema

Auch wenn im zula24.de-Laden im Moment ein sehr überschaubares Kommen und Gehen stattfindet: Das Geschäfts-Handy klingelt trotzdem regelmäßig. „Die Leute wollen wissen, wie es weitergeht“, sagt Ramon Luges. Er berichtet von zum Teil aufgebrachten Anrufern: „Einige schimpfen auf die Behörden und deren Mitarbeiter. Aber die können doch wirklich nichts für die Situation.“

Keine digitalen Aktenordner zur Verfügung

Ulrich Berghof im gut 70 Kilometer entfernten Drolshagen müssten solche Worte guttun. „Wir sind von Normalität weit entfernt“, sagt der Bürgermeister der 12.000-Einwohner-Stadt im Kreis Olpe, „die Hackerattacke hat uns alles genommen, was wir zum Arbeiten brauchen – wie digitale Aktenordner und elektronische Fachverfahren, also die IT zum Ausführen und Unterstützen von Verwaltungsaufgaben.“ Aber, so ergänzt Berghof. Er habe im Rathaus ein „hoch motiviertes Team“, das Stück für Stück versuche, pragmatische Lösungen zu erarbeiten.

Bürgermeister Ulrich Berghof im Rathaus der Stadt Drolshagen. Bei der Kommunalwahl im September 2020 wurde er in seinem Amt bestätigt.
Bürgermeister Ulrich Berghof im Rathaus der Stadt Drolshagen. Bei der Kommunalwahl im September 2020 wurde er in seinem Amt bestätigt. © WP | Josef Schmidt

Berghof muss herzhaft lachen, als er gefragt wird, ob man alte Faxgeräte reaktiviert habe. „Ich müsste erst schauen, ob noch irgendwo welche herumstehen“, frotzelt er, „aber es würde ja nichts nützen, wenn der Adressat mutmaßlich gar kein solches Gerät mehr besitzt.“

Alte Vordrucke helfen in der Not

Auch wenn der Fax-Einsatz in deutschen Amtsstuben zum Erliegen gekommen ist, musste man in der Drolshagener Verwaltung notgedrungen „das Rad in eine Zeit zurückdrehen, die wir schon längst hinter uns wähnten“, drückt es Berghof aus: „Wir arbeiten wieder wie vorgestern. Analog statt digital.“ Gut, dass sich in manchen Schreibtisch-Schubladen noch alte Vordrucke befanden.

In einem der Dienstzimmer wurde kurz nach dem Hackerangriff eine Schreibmaschine in Betrieb genommen, um einen Briefumschlag zu beschriften. Das antike Teil ist mittlerweile wieder eingemottet. Statt der üblichen 70 Computerarbeitsplätze im Rathaus stehen wenigstens 18 Dienst-Laptops zur Verfügung.

Zeitaufwändiges analoges Arbeiten

Hat das große Daumendrehen in der Stadtverwaltung begonnen? Davon will der Bürgermeister nichts wissen: „Ich habe zwar verfügt, dass die Zeit zum Überstundenabbau und für Urlaube genutzt werden kann. Aber: Analoges Arbeiten ist zeitaufwändiger.“ Beispiel: Mails an die Verwaltung laufen jetzt über eine zentrale Mailadresse ein. Ein Mitarbeitender druckt die Schreiben aus und schickt sie per Hauspost an die einzelnen Fachabteilungen.

Auch rund um den schönsten Tag im Leben sind nach dem Ausfall der Standesamtssoftware in Stadtverwaltungen pragmatische Lösungen gefragt.
Auch rund um den schönsten Tag im Leben sind nach dem Ausfall der Standesamtssoftware in Stadtverwaltungen pragmatische Lösungen gefragt. © picture alliance/dpa | Roberto Pfeil

Ob Passangelegenheiten, Abfuhrtermine, Kfz-Zulassungen oder Trauungen: Es hakt in vielerlei Hinsicht in den Verwaltungen in der Region. Müssen sich Heiratswillige angesichts des Komplettausfalls der Standesamtssoftware, wodurch zum Beispiel derzeit keine Beurkundungen möglich sind, um den schönsten Tag im Leben Sorgen machen? „Über den Online-Traukalender des Standesamts können Termine reserviert werden“, sagt zum Beispiel Ramona Eifert für die Stadt Arnsberg. Bislang hätten keine Termine abgesagt oder verschoben werden müssen. Sie rät Paaren, sich telefonisch beim Standesamt zu melden.

Gut 100 Kilometer weiter, in Drolshagen, will Bürgermeister Berghof trotz allem sein „positives Denken“ beibehalten: Auch wenn die Kommune einen gewissen Zeitraum finanziell überbrücken könne, wisse man zur Stunde nicht, wie sich die Attacke insgesamt auf den Stadtsäckel auswirken werde. „Natürlich merken wir, dass Steuern und Abgaben nicht eingezogen werden können. Und doch: Wir werden uns irgendwie über die Zeit retten, bis die elektronischen Systeme wieder vollständig laufen.“

Behelfslösungen angestrebt

Derweil arbeitet man allerorten an Behelfslösungen. So erhält der Kreis Olpe Nachbarschaftshilfe vom Oberbergischen Kreis: Seine Bürger können ab sofort Autos mit GM-Nummer zulassen oder ummelden.

Ab kommender Woche werden zwölf Mitarbeitende der Kfz-Zulassungsstelle im HSK an Arbeitsplätzen in den Kreisen Paderborn und Waldeck-Frankenberg arbeiten. Sie bearbeiten die Unterlagen, die die Pkw-Besitzer nach wie vor in den Zulassungsstellen des Kreises in Arnsberg, Brilon und Meschede abgeben können. Kleiner Wermutstropfen: Statt HSK wird auf den Kennzeichen PB oder KB stehen.

Wenn man so will, ein Hoffnungsschimmer für den leidgeprüften Schildermacher Ramon Luges in Meschede, in unmittelbarer Nähe zur Zulassungsstelle. Der Hochsauerländer an sich, das weiß man, ist durchaus Lokalpatriot. „Es könnte ja gut sein“, sagt Luges, „dass so mancher Autofahrer ein HSK-Schild zurückhaben möchte, wenn die Systeme in der Mescheder Zulassungsstelle wieder funktionieren.“