Olpe. Allon Sander lebt als Jude in Deutschland - und ist seit dem Konflikt in Nahost noch vorsichtiger. Wo und warum er Angst hat.

Wo es die allerbesten Oliven in der Gegend gibt, wüsste Allon Sander sofort. Doch den syrischen Lebensmittelhändler, den er im Kreis Olpe schätzt, den besucht er nicht mehr. Aus Vorsicht. „Da gehe ich nicht mehr einkaufen, das wäre eine Gefahr. Solche alltäglichen Fallen vermeide ich“, sagt er. Als Jude ist Allon Sander auf den ersten Blick zwar nicht identifizierbar, aber was, wenn ihn dort jemand fragt, warum er sich so gut mit den Lebensmitteln auskennt, die es in seinem Geburtsland Israel auch gibt?

Wie der Terror in Israel das Leben von Allon Sander verändert hat

Er sei vorsichtiger geworden und gehe weniger offen auf die Menschen zu, sagt er, „weil ich nicht weiß, wie sie auf mich reagieren. Weil ich nicht will, dass sie wissen, wer ich bin und wo ich lebe.“ Kurze Pause. „Als Jude weiß man, dass man immer gesucht wird. Aber jetzt ist das Gefühl noch stärker. Das ist ein furchtbares Gefühl.“

Jetzt bedeutet: Herbst im Jahre 2023. Die Novemberpogrome der Nazis jähren sich am 9. November zum 85. Mal. Sander lebt in diesem Land - trotz der Vergangenheit. Aber die Dinge haben sich verändert. Vor mehr als einem Monat machte die Hamas Jagd auf Juden in Israel, nahm sie als Geiseln, tötete sie. Seitdem herrscht Krieg im Gazastreifen - und Antisemitismus wird sichtbarer. Auch in Deutschland, auch in Südwestfalen. Auch im Leben von Allon Sander, über das wir vor zwei Jahren schon berichteten. Damals sagte er: „Angst habe ich persönlich noch keine, zumindest nicht täglich oder unmittelbar.“ Und jetzt? Lebt er immer noch ohne jeden größeren Zwischenfall zufrieden im Sauerland. Aber er sagt: „Ich habe in mich hineingehorcht: Das, was ich da spüre, ist Angst“, sagt er heute. „Die Angst wohnt tief in einem drin – und sie sucht sich die Risse in der Fassade.“

Jeder Fall von Antisemitismus bringt die Angst zurück. Man versucht das zu verdrängen, sonst wäre man nicht lebensfähig, aber jede solcher Aktionen macht mir klar: Ich bin gemeint. Ich nehme das persönlich.
Allon Sander

Dass er sich trotzdem in die Öffentlichkeit wagt, liegt daran, dass es zwei Allon Sanders gibt. Den öffentlichen, den Autoren und freien Journalisten, den Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im Siegerland. Als dieser tritt er bei Veranstaltungen auf - wie der Solidaritäts-Kundgebung am Freitag auf dem Olper Marktplatz. „Meine Strategie war stets, dass ich in die Öffentlichkeit gegangen bin, um zu zeigen: Ich lasse mich von der Angst nicht lähmen“, sagt er. Sinn des Terrors – egal von welcher Seite er komme – sei, den Menschen Angst zu machen, damit sie sich zurückzögen. „Wenn irgendwann der Moment kommt, an dem ich mich aus der Öffentlichkeit zurückziehe, dann wäre für mich klar: Hier kann ich nicht mehr leben“, sagt er.

Kontakt zu unbekannten Menschen meidet Allon Sander jetzt

Aber da gibt es auch den privaten Allon Sander, den Ehemann und Vater, der nicht möchte, dass man weiß, wo er genau wohnt. Der Situationen meidet, in denen er vor Unbekannten als Jude sichtbar wird. Der im Fitnessstudio nicht mehr auf die Menschen zugeht, sondern den Kontakt scheut, weil er nicht weiß, wem er gegenüber steht und was derjenige über ihn denken würde, wenn er mehr über ihn wüsste. Der im Kino sehr genau hinschaut, wer da eigentlich sitzt. Er erinnert sich an eine gut besuchte Kulturveranstaltung, an der er jüngst teilnahm. Er merkte, sagt er, wie er sich Fragen stellte: „Wer sitzt wo, wer kommt in den Raum, welche Fluchtwege existieren, wie reagiere ich, wenn etwas passiert?“

Allon Sander auf dem Marktplatz in Olpe, wo am Freitag eine Veranstaltung gegen Antisemitismus stattfindet.
Allon Sander auf dem Marktplatz in Olpe, wo am Freitag eine Veranstaltung gegen Antisemitismus stattfindet. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Die schlimmsten Szenarien treten nicht ein, zum Glück, aber eine Gewähr gibt es dafür nicht. Sander berichtet, dass viele ihm bekannte jüdische Eltern ihre Kinder in den vergangenen vier Wochen nicht oder nur mit großer Sorge in die Schule schickten. Warum? Dafür gibt es sogar im beschaulichen Sauerland Beispiele, sagt er. „Ein muslimischer Schüler – 14, 15 oder 16 Jahre alt - hat dort gesagt, dass es ihm egal ist, wenn Juden sterben. Und dass es schade sei, dass Hitler nicht mehr lebt. Vor ihm muss man nicht zwingend Angst haben, aber die Frage ist: Wo kommt das her? Er hat Eltern, Familie, Freunde. Mit Sicherheit nette Leute, höfliche Nachbarn – aber in diesem einen Punkt sind sie radikal: Juden sind ihre Feinde, die müssen sterben. Das ist beängstigend.“

Feige oder vernünftig: Ist das Nachgeben ein Sieg des Terrors?

Sander sieht die Stimmung bei den propalästinensischen Demonstrationen - in Düsseldorf, Siegen, Berlin, erfährt, dass dort antisemitische Rufe zu hören sind. In Dagestan wird das Flughafengebäude gestürmt, weil man vermutete, Juden seien gelandet. „Jeder Fall von Antisemitismus bringt die Angst zurück. Man versucht das zu verdrängen, sonst wäre man nicht lebensfähig, aber jede solcher Aktionen macht mir klar: Ich bin gemeint. Ich nehme das persönlich. Dieser Hass ist nicht weg, nur weil man hofft, dass er weg ist.“

Diese Angst, diese Sorge schleicht sich ins alltägliche Leben, verändert das Verhalten. „Ob das ein Nachgeben ist, ein Sieg des Terrors, ist einem Elternteil egal“, sagt Sander. Es sei Teil seiner Verantwortung zu wissen, „dass auch andere den Preis bezahlen“ könnten. Das bestimmt sein Handeln, mit dem er durchaus hadert. „Ich bin mit mir nicht zufrieden, dass ich Einschränkungen in meinem Leben zulasse. Ich frage mich: Bin ich feige oder vernünftig?“ Früher trug er, wenn er auftrat, auf dem Hin-und Rückweg die Kippa - heute nicht mehr. Und trägt er sie zu Hause, dann zieht er die Vorhänge zu, damit niemand hineinschauen kann. „Die Nachbarn kennen mich, aber man weiß ja nie, wer vorbeiläuft.“

Selbst zu Hause unfrei, und selbst in der Heimat nicht sicher. So fühlt sich das offenbar gerade an. „Die Vorstellung in Israel einen sicheren Hafen zu haben, fällt nun weg. Einen Zufluchtsort, an den wir uns begeben können, wenn es mal hart auf hart kommt“, sagt Sander: „Das ist ein ganz wesentlicher Bruch in unserem Leben, den Außenstehende nicht nachvollziehen können.“ Sanders Vater flüchtete 1933 aus Deutschland nach Israel, Allon Sander wurde an der israelischen Küste geboren und wuchs dort auf. Mit 24 kam er zum Studieren nach Siegen - und blieb. „Diese Gewissheit, dass es diesen Ort gibt, an den wir uns begeben können, war heilsam. Aber die Gewissheit ist nun nicht mehr da.“

Fallen vermeiden, flüchten, verstecken - jüdisches Leben im Jahr 2023 mitten in Deutschland. „Diese Sorgen und Ängste kosten viel Kraft. Manchmal wache ich morgens auf und habe keine Kraft“, sagt der 55-Jährige. „Aber die Angst macht einen auf eine gewisse Weise auch lebendiger. Man beachtet das Leben und das, was es einem an Schönem schenkt, viel mehr.“

Reichlich Schönes sei da in seinem Leben, sagt er, selbst aus der jetzigen Situation erwachse Gutes. Zu sehen, dass Deutschland „einer unserer größten Freunde“ sei, sei schön. Diejenigen, für die ,nie wieder‘ ein Begriff sei, „wissen, auf welcher Seite sie stehen müssen. Das weiß ich sehr zu schätzen. Das ist eine tolle Erfahrung. Viele, die geglaubt haben, diese Angst, die wir immer schon in uns trugen, sei vielleicht übertrieben, haben nun ein ganz anderes Verständnis für unsere Lage.“