Hagen. Aufgrund steigender Flüchtlingszahlen richten die ersten Städte in Südwestfalen Turnhallen als Notunterkünfte ein. Die Maßnahme birgt Zündstoff.
Es ist eine Maßnahme, die alle vermeiden wollten. Nun aber ist es – wieder – so weit: Aufgrund des anhaltenden Zuzugs von Flüchtlingen haben die ersten Städte in der Region den Notstand ausgerufen und Turnhallen als Unterkünfte eingerichtet, etwa in Hagen und Bad Laasphe.
Die Maßnahme ist nicht nur für die dort untergebrachten Flüchtlinge unbefriedigend, sondern auch unpopulär. Die Hallen stehen für den Schul-, Vereins- und Freizeitsport nicht mehr zur Verfügung – wahrscheinlich monatelang nicht.
In der ohnehin angespannten Stimmung rund um das Thema Migration/Integration birgt das Vorgehen weiteren Zündstoff, zumal Sören Lamm, Dezernent bei der Stadt Bad Laasphe, davon ausgeht, dass weitere Kommunen den Beispielen folgen werden.
Die Not-Maßnahme verwundert allerdings auch – zumindest, wenn man die offizielle Flüchtlings-Verteilstatistik der Bezirksregierung Arnsberg für die Kommunen in der Region hinzuzieht. Denn auf den ersten Blick stellt sich die Lage teils nicht so dramatisch dar.
„Deutliche Zunahme“ von Flüchtlingen
Beispiel Bad Laasphe: Vor einem Jahr hatte die Kleinstadt (13.000 Einwohner) in Wittgenstein laut Verteilstatistik 250 Flüchtlinge aufgenommen, die so genannte Erfüllungsquote lag bei 103,37 Prozent; Bad Laasphe hatte acht Menschen mehr als gesetzlich vorgesehen aufgenommen.
Anfang November 2023 ist die Erfüllungsquote nun deutlich niedriger, sie liegt bei 91,1 Prozent. Bad Laasphe hat 238 Flüchtlinge aufgenommen, zwölf weniger als vor einem Jahr. Das Soll liegt allerdings bei 261 – 19 Menschen mehr als vor einem Jahr. Die Stadt kündigte jüngst an, die im Hauptort gelegene Sporthalle der Lachsbachschule für den Schul- und Vereinssport zu sperren und dort Flüchtlinge unterzubringen.
Die Erfüllungsquote – gedacht, um eine einigermaßen gerechte Verteilung auf die Kommunen zu erreichen – habe derzeit „nahezu keine Relevanz“, sagt Sören Lamm. Die Zahl der Flüchtlinge steige in diesem Herbst deutschlandweit so stark an, dass „letztlich alle Kommunen früher oder später weitere Zuweisungen erhalten werden und ganz hart an die Grenze kommen – zumal nicht absehbar ist, dass die steil steigende Kurve der Flüchtlingszahlen in wenigen Monaten wieder nach unten zeigt“, so Lamm weiter. Er betont: „Weil noch so viele weitere Flüchtlinge zu erwarten sind, ist es gar nicht relevant, ob eine Kommune leicht über oder unter der Quote liegt. Wir haben eine deutliche Zunahme von Zuweisungen, das wirkt sich auf allen Ebenen aus.“
Kaum noch Luft
Im Vergleich zum Vorjahr mussten die Kommunen in NRW nun etwa 21.000 Flüchtlinge mehr aufnehmen. Ankommende Flüchtlinge werden von oben nach unten verteilt, das heißt, von zentralen Landeseinrichtungen auf die Städte und Gemeinden. Die Landesaufnahmeeinrichtungen sind allerdings nahezu voll, weil der Flüchtlingsstrom offensichtlich nicht nachlässt. Dieser Druck wird an die Kommunen weitergegeben. Das NRW-Flüchtlingsministerium (MKJFGFI) spricht von einer „sehr angespannten Zugangslage“, die „erhöhte Zuweisungen aus den Landeseinrichtungen in die Kommunen“ erzwinge. Die Rede ist von bis zu 2000 Menschen pro Woche, die aus dem Landessystem in den Kommunen ankommen. Die aktuell insgesamt 45 Landesunterkünfte mit 30.600 Plätzen seien zu 93 Prozent belegt, bis Anfang 2024 wolle die Landesregierung weitere 3.000 Plätze für die Erstunterbringung von Geflüchteten schaffen.
Wenn aber die Zahl der Flüchtlinge insgesamt größer ist als im Vorjahr, also mehr Menschen auf die einzelnen Kommunen verteilt werden müssen, steigt das Pflicht-Kontingent der einzelnen Städte und Gemeinden – und die jeweilige Erfüllungsquote sinkt erst einmal.
„Bei der Erfüllungsquote haben wir noch etwas Luft. Aber das bisschen Luft, das wir noch haben, wird in zwei, drei Wochen aufgebraucht sein“, sagt Sören Lamm von der Stadt Bad Laasphe. Ihnen seien von der Bezirksregierung Arnsberg durchschnittlich etwa 15 weitere Flüchtlinge angekündigt worden – pro Woche. „Wenn man mit stark steigenden Zahlen konfrontiert wird, müssen viele Kommunen eine Halle benutzen. Das ist für alle Beteiligten unschön, aber nicht zu ändern. Es gibt mehrere Kommunen im Kreis Siegen-Wittgenstein, die bereits Hallen in Benutzung haben“, so Lamm.
Land kritisiert Bund
Ein erheblicher Teil des Problems sei, dass Kommunen für das Vorhalten von Wohnraum für geflüchtete Menschen keine Refinanzierung durch Bund und Land erhielten. Verfüge eine Kommune nicht über größere leerstehende Immobilien (etwa frühere Kasernen oder Schulen), könne sie nicht im großen Stil Unterbringungsmöglichkeiten auf Vorrat einrichten. „Es ist eine politische Frage, wie man gesetzlich die Unterbringung von Flüchtlingen löst und wie man sie finanziert“, sagt Lamm. Heißt: Düsseldorf und Berlin sind gefordert.
Das NRW-Flüchtlingsministerium in Düsseldorf verweist auf seine Unterstützung – und nennt unter anderem als Ursache für das Problem: Aufgrund des angespannten Wohnungsmarktes sei es nicht in jeder Kommune gelungen, Geflüchtete aus den vergangenen Jahren in Wohnungen zu vermitteln, diese befänden sich teilweise noch in den kommunalen Einrichtungen. „Daher sind noch viele kommunale Kapazitäten gebunden und können nicht durch neu ankommende Geflüchtete genutzt werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass in NRW mehr als 220.000 Menschen im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine Schutz gefunden haben“, so das MKJFGFI.
Zudem kritisiert die NRW-Behörde das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Die Zuweisung von Flüchtlingen aus dem Landessystem an die Kommunen solle grundsätzlich erst nach der sogenannten BAMF-Anhörung im Rahmen des Asylverfahrens stattfinden, für das der Bund zuständig ist. Wegen einer „deutlich zu geringen Personaldecke des BAMF“ gebe es jedoch einen „signifikanten Rückstau“ bei den Anhörungen der Asylsuchenden. Dies führe dazu, dass NRW von der bewährten Praxis – der Zuweisung erst nach erfolgter Anhörung – „in Teilen abweichen“ müsse, erklärt das Landes-Flüchtlingsministerium.
Man habe das BAMF bereits auf den Missstand hingewiesen und aufgefordert, dringend für mehr Personal – auch etwa bei Dolmetschern – zu sorgen. „Wir müssen nun auch Geflüchtete den Kommunen zuweisen, die noch keine BAMF-Anhörung durchführen konnten. Das ist im Sinne der gemeinsam diskutierten Entlastungen der Kommunen und Beschleunigung von Verfahren nicht hinnehmbar“, erklärte NRW-Integrations- und Flüchtlingsministerin Josefine Paul.