Lüdenscheid. Fast ein Viertel des Kollegiums hat Versetzungsanträge gestellt – neue Stellen werden ausgeschrieben, aber es gibt zum Teil keine Bewerbungen.
Eine solche Situation hat Sven Arriens noch nicht erlebt. Der Leiter der Adolf-Reichwein-Gesamtschule in Lüdenscheid atmet schwer. Rund 100 Lehrer gibt es an seiner Schule, etwa ein Viertel will weg. Mehr als 20 Lehrerinnen und Lehrer, sagt er, haben bei der Bezirksregierung Arnsberg einen Versetzungsantrag gestellt.
Den Grund dafür kennt er auch: die einst marode und mittlerweile gesprengte Talbrücke Rahmede, wegen der die Autobahn 45seit Dezember 2021 voll gesperrt ist – und die nun ganz am Ende der Kette auch die Kinder der Stadt betrifft. Denn die Gesamtschule ist mit ihren Sorgen nicht allein – wenngleich es sie am schlimmsten trifft. „Die Lage ist angespannt. Wir arbeiten schon jetzt nahe am Limit“, sagt Arriens.
30 bis 60 Minuten mehr pro Fahrt für die Pendler
Mehr als Hälfte des Kollegiums pendle nach Lüdenscheid, so der Schulleiter. Bochum, Dortmund, Unna, Schwerte, Hamm – aus Norden kommend stehen die Lehrerinnen und Lehrer jeden Morgen und jeden Abend im Stau. 30 bis 60 Minuten dauere jede einzelne Fahrt mindestens länger. Um 8.10 Uhr beginnt der Unterricht, um 16 Uhr endet er an der Ganztagsschule. Viele Stunden, für die es viele Lehrer braucht.
„Wenn mir hier die Lehrer weglaufen, dann könnte ich den Unterricht nicht aufrecht erhalten“, sagt Arriens. Er weiß, dass es so nicht kommen wird. Acht Lehrkräfte sind im Sommer weg, eine kommt bislang dazu. Es ist und wird schwer genug.
+++ Lesen Sie auch: Nach der Sprengung werden die Steine verkauft +++
Die Unzufriedenheit der Lehrer mit dem Standort Lüdenscheid spürt nicht nur die Reichwein-Gesamtschule. 25 Schulen gibt es in der Stadt mit 765 Stellen. Im Jahr vor der Sperrung der Autobahn gingen bei der Bezirksregierung 40 Versetzungsanträge von Lehrern an Lüdenscheider Schulen ein. Im Jahr danach (bis November 2022) waren es schon 57 Anträge. Eine Zunahme von mehr als 40 Prozent.
Keine Bewerbungen mehr auf Zeitverträge
„Auch wir haben Versetzungsanträge, die auf die Verkehrssituation zurückzuführen sind“, sagt Dieter Utsch vom Bergstadt-Gymnasium in Lüdenscheid. Aber er hat Glück: Vier Lehrkräfte, die in Lüdenscheid wohnen, lassen sich in ihre Stadt versetzen und fangen bei ihm an. Aber er sagt auch: „Spürbar ist, dass wir bei Stellenausschreibungen für Zeitverträge so gut wie keine Bewerbung mehr kriegen.“
Michaela Knaupe, Leiterin des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in Lüdenscheid, sieht an ihrer Schule keine Welle von Versetzungsanträgen. „Es ist eine Belastung, die die Kolleginnen und Kollegen auf sich nehmen, um das System am Laufen zu halten“, sagt sie. Und: „Es ist deutlich schwieriger geworden, Ersatz für Kolleginnen und Kollegen zu finden, die pensioniert werden oder in Elternzeit gehen.“
Ganztagsschule: Teilweise schon um 13.30 Uhr beendet
Ähnlich der Blick von René Jaques vom Zeppelin-Gymnasium: „Die Personalausstattung ist angespannt. Vor allem ist es fast unmöglich geworden, kurzfristige Ausfälle durch längere Krankheiten oder Schwangerschaften durch Zeitverträge aufzufangen. Das ist ein riesiges Problem.“ Zuletzt hatte er bei einer Ausschreibung keine einzige Bewerbung. „Die überlegen sich das alle dreimal.“
Lehrer werden landauf und landab händeringend gesucht. Am Standort Lüdenscheid ist es nun noch deutlich komplizierter – mit konkreten Folgen. Sechs Stellen hat die Adolf-Reichwein-Gesamtschule in Abstimmung mit der Bezirksregierung Arnsberg ausgeschrieben – und nur eine Bewerbung erhalten. Schon jetzt hat die Mittelstufe (5. bis 10. Klasse) dienstags und freitags oft gegen 13.30 Uhr frei, weil die Stunden nicht bedient werden können.
„Hauptfächer fallen nicht aus“, sagt Arriens, „aber wir sind eine Ganztagsschule. Die Eltern verlassen sich darauf, dass die Kinder bis 16 Uhr Unterricht haben. Ist das nicht so, bekommen sie Probleme“, sagt Schulleiter Arriens.
Arbeiten am Limit.
Erhöhter Krankenstand wegen der Brücke?
„Gegen Ende der Woche habe ich oft einen erhöhten Krankenstand. Ob es einen Zusammenhang gibt, weiß ich nicht. Aber die Kolleginnen und Kollegen sind mindestens von 7 bis 17 Uhr unterwegs – und da sprechen wir noch nicht von Unterrichtsvor- und -nachbereitung. Sie haben kaum noch Regenerationsphasen. Das merke ich schon. Und ich habe die Sorge, dass sich die, die dann noch da sind, aufreiben.“
Das ist das Stichwort: die, die noch da sind. Nicht allen Versetzungsanträgen wird stattgegeben. Nur knapp die Hälfte der Anträge wurde genehmigt. Die Zahl der Versetzungen nach Lüdenscheid ist sogar größer als die Zahl derer, die Lüdenscheid verlassen. 2022 ist das Verhältnis 17 zu 25, im Jahr 2023 ist es 20 zu 27.
+++ Lesen Sie auch: Interview mit Ministerpräsident Hendrik Wüst +++
„Wir sehen in Lüdenscheid keine Situation, die einer besonderen Handhabung bedarf“, teilt daher auch die Bezirksregierung mit Blick auf die Schulen der Stadt mit. „Die Adolf-Reichwein-Gesamtschule wird angesichts der dortigen aktuellen Personalbewegungen sehr sorgfältig begleitet und betreut.“ Die Schule habe sechs weitere Stellen zugewiesen bekommen, diese seien aber zum Teil ohne Bewerbungen geblieben. Das Ausschreibungsverfahren soll nun wiederholt werden. „Die Bezirksregierung wird außerdem beispielsweise mit Abordnungen von Lehrkräften anderer Schulen an die Adolf-Reichwein-Gesamtschule reagieren und sich um Vertretungskräfte bemühen.“
Ministerpräsident Wüst zu Gast in Lüdenscheid
Im Mai machte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) während seiner Reise durch Südwestfalen Station in der Adolf-Reichwein-Gesamtschule und ließ sich die problematische Lage erklären. Das Schulministerium verweist bei der Nachfrage nach der Situation und möglicher Maßnahmen an die Bezirksregierung.
Wie schnell und ob ihm geholfen werden kann, weiß Schulleiter Sven Arriens nicht. Er weiß nur, dass all das jetzt in eine Zeit fällt, in der man sich für die Kinder eigentlich mehr Zeit nehmen müsste als das früher der Fall war. „Wir spüren die Folgen der Corona-Zeit hier stark. Viele Schüler kommen aus der Grundschule zu uns und sind nicht in der Lage zu lesen, zu schreiben, zu rechnen“, sagt Arriens.
Und dann ist da noch die Besonderheit der Gesamtschule, die nicht nur fachlich wirken muss, sondern besonders auch pädagogisch und erzieherisch. „In einer Zeit, in der die Kinder mehr Unterstützung denn je bräuchten und Schulentwicklungsprozesse angestoßen werden müssten, sind wir zu oft damit beschäftigt, den geregelten Ablauf sicherzustellen.“