Lüdenscheid/Siegen/Eslohe. Verkehrschaos in Lüdenscheid, Virtual Reality in Kreuztal, Scherzen in Attendorn: Der NRW-Ministerpräsident in der Region. So verläuft der Tag.

Auf Kuschelkurs durch Südwestfalen: Sieben Stationen absolviert NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst bei seiner Schwerpunktreise durch die Region. Er will Südwestfalen und die dort lebenden Menschen besser kennen lernen, sagt der Regierungschef, der einen Tag zuvor noch Alt-Kanzlerin Angela Merkel den NRW-Staatspreis verliehen hat. Jetzt also ein Heimspiel: Der ländliche Raum zwischen dem Ruhrgebiet und Hessen ist weitgehend CDU-Land. Wir haben Wüst an seinem Südwestfalen-Tag am Mittwoch begleitet.

9.33 Uhr, Adolf-Reichwein-Gesamtschule Lüdenscheid. Die Limousinen aus Düsseldorf fahren auf den Schulhof. Nur drei Minuten zu spät. Nicht schlecht für eine Stadt, die seit eineinhalb Jahren unter einem dramatischen Verkehrschaos leidet. Die gesperrte A 45 ist für Wüst ein unangenehmes Thema, aber im Gespräch mit der Jahrgangsstufe 10 kommt er daran nicht vorbei. Erst gibt es ein Glas Honig aus dem Schulgarten als Geschenk, dann wird Tacheles geredet - und die Presse darf nicht dabei sein.

Im Gespräch mit Schülern in Lüdenscheid

Jeder vierte Lehrer habe hier einen Versetzungsantrag gestellt, erzählen Bergita Unteregger und Stephanie Tilsch im Vorgespräch. Die beiden Schulsozialarbeiterinnen haben den Regierungschef schon vor geraumer Zeit eingeladen. „Unsere Kolleginnen und Kollegen haben keine Lust mehr, jeden Tag zwei Stunden im Stau zu stehen“, sagen sie. Was helfen könnte? „Entlastungen. Zum Beispiel weniger Klassenarbeiten.“

Das würden wohl auch die jungen Menschen im Klassenraum gut finden. Sie sind artig aufgestanden, als der Gast rein kommt. Viele von ihnen haben einen Ausbildungsplatz sicher, müssen demnächst also zur Berufsschule nach Iserlohn, Hagen oder Dortmund. Wie soll das gehen mit der gesperrten Sauerlandlinie? Andere wollen später studieren. Ihrer Heimat werden sie dann wohl den Rücken kehren. Auch wegen der A 45.
„Das war ein angenehmer Besuch“, sagt Sadiye Solak (17) anschließend. „Wir haben uns gut über uns und unsere Probleme unterhalten.“ Und wie war Wüst? Bei der Antwort klingt sie etwas überrascht: „Das ist ja ein ganz normaler Mensch.“

Wüst taucht in virtuelle Realität ein

11.25 Uhr: Campus Buschhütten in Kreuztal: „Hier wird Zukunft produziert“, kündigt Gabriele Barten das Gemeinschaftsprojekt der Achenbach Buschhütten Holding mit der Universität Siegen an. Sie ist Mitglied der Geschäftsführung. Ihr Mann Axel Barten, Geschäftsinhaber, spannt in seinem Vortag den Bogen von der Firmengründung im Jahr 1452 bis heute. Stichwörter wie Digitalisierung, Transformation, Künstliche Intelligenz, Fachkräftemangel und Industrie 4.0 fallen.

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Der Campus verknüpft Forschung, Lehre und Produktion, lernt der Ministerpräsident. Hier wird sogar der vertikale Lebensmittelanbau in Innenräumen erprobt. Wüst ist beeindruckt, lobt den innovativen Mittelstand und setzt eine VR-Brille auf, um kurz in die virtuelle Realität einzutauchen. Dann gibt es einen roten Schirm als ganz reales Abschiedsgeschenk. Dabei regnet es gar nicht.

Ministerpräsident Hendrik Wüst besucht am Mittwoch den Campus Buschhütten bei Siegen in Südwestfalen.
Ministerpräsident Hendrik Wüst besucht am Mittwoch den Campus Buschhütten bei Siegen in Südwestfalen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

13.10 Uhr: Sauerland-Tourismus im schicken Romantik-Hotel Platte in Attendorn. Auf der Theke steht ein Sauerland-Globus. Hier geht die Welt von Halver bis Marsberg. Die Gespräche sind vertraulich. „Muss auch mal sein“, sagt Wüst. Beim Mittagessen wird gebackenes Schnitzel vom Kalbsrücken oder Cremiges Fregola Sarda gereicht. Dass sich die Branche umstellen muss, ist kein Geheimnis. Weniger Schnee im Winter, mehr Windräder in jeder Jahreszeit. Wegen der Energiewende.

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Die verschandeln die Landschaft und schrecken Touristen ab, sagen Kritiker. Selbstverständlich sei über die Windkraft gesprochen worden, sagt Jürgen Fischbach, Geschäftsführer des Sauerland-Tourismus, anschließend. Wüst hatte tags zuvor im Interview mit der WESTFALENPOST gesagt, er habe sich in seiner Heimat Münsterland an die Anlagen gewöhnt. Noch mehr Sorgen als der Wind macht dem Gastgewerbe aber der (Fach-)Kräftemangel. Fischbach wünscht sich weniger Bürokratie bei der Beschäftigung von Flüchtlingen. Zu häufig stünden die Behörden auf der Bremse. Wüst hört zu, stellt detaillierte Fragen. Er hat, so scheint es, die Probleme verstanden.

In Attendorn wird gescherzt

Zu Gast in der Viega-World in Attendorn: Ministerpräsident Hendrik Wüst informiert sich in dem mittelständischen Familienunternehmen.
Zu Gast in der Viega-World in Attendorn: Ministerpräsident Hendrik Wüst informiert sich in dem mittelständischen Familienunternehmen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

14.40 Uhr: Viega-World in Attendorn. Das mittelständische Familienunternehmen Viega ist eine sauerländische Vorzeige-Firma wie aus dem Bilderbuch. Weltweit mehr als 4700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tüfteln an Produkten in der Gebäude-, Sanitär- und Heizungsbranche. Das Geschäft brummt, noch. „Die Konjunktur steht auf der Bremse“, sagt Inhaber Walter Viegener. Gerade hat er dem Ministerpräsidenten einen 3-D-Film über „eines der modernsten Schulungszentren der Welt“ gezeigt. Viega plant und baut digital - und würde sich freuen, wenn die Behörden auch ein bisschen digitaler dächten und handelten. Sonst muss am Ende doch wieder alles ausgedruckt werden.

Gleichwohl: Es wird viel gescherzt bei diesem Besuch. Zum Einstieg zeigt Viegener das Bild der Freiheitsstatue, in die sein Unternehmen Rohrleitungen verbaut hat. „Sie fangen ja ganz bescheiden an“, sagt Wüst. „So ist der Sauerländer“, scherzt der Chef, um kurze Zeit später ganz ernst zu sagen: „Viessmann ist verkauft worden. Solange Blut in meinen Adern fließt, wird dieses Unternehmen nicht verkauft.“

Eine steife Brise in Rönkhausen

16 Uhr: Pumpspeicherwerk Rönkhausen. Apropos Energie: Der schönste grün erzeugte Strom nützt nicht viel, wenn er nicht gespeichert werden kann. Das Kraftwerk hier hat eine Leistung von 140 Megawatt. Das Wasser aus dem künstlich angelegten Oberbecken strömt in die Glingebachtalsperre und erzeugt dabei Strom. Klingt simpel, müsste es öfter geben. Geht im Flachland aber nicht. Und die Investitionen sind riesig, sagen die Fachleute. Im dreistelligen Millionenbereich.

Hier oben herrscht eine steife Brise, würde man am Meer sagen. Vielleicht wird deshalb jetzt auch mehr über Wind- als über Wasserenergie gesprochen. 15 bis 20 Windräder sollen im Umfeld des Pumpspeicherwerks entstehen, sagt Theo Melcher, Landrat des Kreises Olpe. Widerstände sind sicher. „Aber mit welcher Form des Wirtschaftens sind denn keine Nachteile verbunden?“, fragt er rhetorisch. Wichtig sei es, die Bürger vor Ort mitzunehmen und sie an den Einnahmen zu beteiligen. „Stimmt“, sagt Wüst und lässt sich zum gefühlt 387. Mal an diesem Tag fotografieren.

Ministerpräsident Hendrik Wüst in Meschede bei der örtlichen Feuerwehr.
Ministerpräsident Hendrik Wüst in Meschede bei der örtlichen Feuerwehr. © WP | Martin Korte

17.15 Freiwillige Feuerwehr Meschede: Der Chauffeur des Begleitfahrzeugs hat sich auf dem Weg von Rönkhausen verfranzt, kein Internet, das Navi erzählt nur Unsinn. Auch das ist Südwestfalen. Die Presse kommt zu spät, Wüst ist pünktlich. Er möchte hier zeigen, wie wichtig ihm das Ehrenamt ist. Nach dem Anschlag in Ratingen spricht er den Einsatzkräften Mut zu, bedankt sich bei ihnen. Rund 850 Mitglieder hat die Feuerwehr in Meschede, erzählt ihr Chef Michael Knapp. „Alle hochmotiviert“, sagt er. Aber auch sie würden feststellen, dass der Respekt gegenüber Menschen in Uniform abnehme. Deshalb sei Wüsts Besuch ein „starkes Signal der Wertschätzung“.

„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich dem Risiko stellen, dem kalkulierbaren und dem unkalkulierbaren“, sagt Wüst. Dann löscht die Jugendfeuerwehr einen kleinen Brand, der Musikzug spielt Bohemian Rhapsody, der Gast geht vier Info-Punkte ab - und erfährt eine Menge über die Menschen, die andere schützen und retten.

Bürgerempfang in Eslohe-Salwey

18.49 Uhr, Bürgerempfang in der renovierten Schützenhalle von Eslohe-Salwey: Der Höhepunkt des Tages. Ganz normale Menschen aus dem Sauerland, keine Unternehmer, keine Funktionsträger. Bei der vergangenen Landtagswahl holte die CDU hier 57 Prozent. Wäre Eslohe NRW, Wüst könnte allein in Düsseldorf regieren. Die Kapelle spielt. Gut 130 Bürgerinnen und Bürger sind da.

Bürgerempfang in Eslohe: Hier triefft Hendrik Wüst auf ganz normale Menschen.
Bürgerempfang in Eslohe: Hier triefft Hendrik Wüst auf ganz normale Menschen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Diskutiert wird dann doch erst wieder mit Politikern. Bernd Schulte, Amtschef der Staatskanzlei aus dem Sauerland, Landrat Karl Schneider und der Esloher Bürgermeister Stephan Kersting (alle CDU) sprechen über Heimat, über das Sauerland. Die Vorzüge der Landschaft, der Zusammenhalt der Menschen, die starke Industrie mit ihren zahlreichen Weltmarktführern - die Zuhörer im Saal wissen das alles schon. Die wohnen ja hier. Hendrik Wüst wahrscheinlich auch, aber Wiederholung stärkt das Bewusstsein. Ja, auch hier fallen wieder die Wörter Facharbeitermangel, Breitbandausbau und Bürokratie. Aber im Grunde wird das Bild einer heilen, weitgehend sorgenfreien Welt gemalt, mit Machertypen in den Unternehmen und den Vereinen. Mit einem stabilen Ehrenamt. „Es lohnt sich sonntagabends sicher mehr, sich dort zu engagieren, als den Tatort zu schauen“, scherzt Schneider.

Nach Wohlfühlterminen: „Sagen, was nicht in Ordnung ist“

Wüst hält eine zunächst staatstragende Rede, streift den Ukraine-Krieg, die Energiewende, die Attacke auf Rettungskräfte in Ratingen, die Probleme in den Schulen. Er sei beeindruckt von Südwestfalen, sagt er dann. Ja, Probleme gebe es dort auch, aber: „Hier packen die Leute an.“ Der Zusammenhalt in den Vereinen sei phänomenal. Der Ministerpräsident kommt volksnah rüber, auch als er über notwendige Windenergieanlagen spricht, seine Rede wird von Applaus unterbrochen.

Am Ende des Abends zieht Wüst nach ein paar hundert Südwestfalen-Kilometern und eben so vielen Fotos eine positive Bilanz, auch wenn er einräumt, dass er vor allem Wohlfühltermine absolviert hat. „Ich lade alle ausdrücklich ein zu sagen, was nicht in Ordnung ist“, sagt er dieser Zeitung. Und: „Ich kenne auch die Gegenden, in denen es nicht so gut läuft.“ Und dann gibt es endlich eine Currywurst.