Ennepetal. Zwischen zwei Welten: Drei ukrainische Schülerinnen des Berufskollegs Ennepetal über ihre Zerrissenheit, ihre Hoffnungen und ihre Pläne.

Eine ukrainische Schülerin sucht nach dem richtigen Begriff – langsam, kaum hörbar nennt sie ihn: „Mentalität“. Die, erzählt Stanislava Sherchenko, sei in Deutschland „ganz anders“. Obwohl die 16-Jährige und zwei weitere ukrainische Schülerinnen ein Jahr nach ihrer Flucht bereits gut deutsch sprechen, kommunizieren sie an diesem Tag lieber in ihrer Heimatsprache. Eine Lehrerin am Berufskolleg in Ennepetal übersetzt. Schnell wird klar, so richtig in Deutschland angekommen sind die drei Jugendlichen noch nicht. „Neues Land, neue Sprache, neue Schule, das ist nicht so einfach“, weiß Thomas Allan, Bereichsleiter für internationale Fachklassen und Sportlehrer am Berufskolleg, zu berichten. Auch weil viele nicht wüssten, wo sie in Zukunft leben wollen.

Überblick über die Möglichkeiten

Thomas Allan wirkt routiniert im Umgang mit den ukrainischen Schülern. Seit Mai 2022 betreut er die ukrainische Klasse mit 40 Schülerinnen und Schülern. Die Jugendlichen wohnen in Schwelm, Gevelsberg und Ennepetal. Darunter sind auch junge Menschen, die in ihrem Heimatland bereits studieren könnten. Allan unterstützt sie, wo er kann, auch bei der Anerkennung ihrer Zeugnisse, er knüpft für sie Netzwerke, stellt Kontakte her. „Wir geben ihnen einen Überblick über die Möglichkeiten“, sagt er. Die wichtigste Aufgabe aber sei, Vertrauen aufzubauen und dadurch die Lernbereitschaft zu erhöhen.

Ein Alptraum, als der Krieg auf einmal ausbrach

Stanislava Sherchenko hatte Pläne. „Aber eines Tages waren sie alle nicht mehr erreichbar. Als der Krieg ausbrach, dachte ich zuerst, das ist ein Witz, ein schlechter Traum.“ Die 16-Jährige wollte es nicht wahrhaben. Die Menschen in ihrem Heimatland tun ihr „unendlich leid“. Die Schule in Ennepetal, so fährt sie fort, sei das beste Mittel, um ihrem Leben wieder Struktur zu geben, um sie auf „andere Gedanken zu bringen“. In Deutschland fühle sie sich aufgehoben.

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Stanislava Sherchenko ist Anfang 2022 aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, geflohen. „Am Morgen des 24. Februar 2022 wachten wir auf, weil wir Bomben in der Nähe hörten. Wir setzten uns ins Auto und fuhren los.“ Bereits am ersten Tag des Krieges hatten Verwandte ihrer Mutter signalisiert, dass sie nach Lwiw im Westen der Ukraine kommen könnten. „Wir waren nicht allein dorthin unterwegs. Es gab viele Staus auf den Straßen“, erinnert sie sich. Fünf Tage seien sie unterwegs gewesen. „Als Charkiw bombardiert wurde, blieb uns nichts anderes übrig als in Lwiw zu bleiben“, so die 16-Jährige. Ihre Freundin Pavia Chepiho folgte ihr ein paar Tage später. Ende Mai gingen sie zu Fuß über die Grenze nach Przemyśl in Polen. 13 Stunden hatten sie zuvor ausgeharrt. Dort wandten sie sich an die Caritas. „Es war Zufall, dass sie uns nach Wuppertal brachte“, berichtet Stanislava Sherchenko. Später bezogen sie eine freiwerdende Wohnung in Schwelm. Dort vermisst sie ihre Freunde in Charkiw, bangt um sie, telefoniert fast täglich mit ihnen.

„Hier in Deutschland ist alles anders, die Mentalität ist anders“

„Hier in Deutschland ist alles anders, die Mentalität ist anders“, berichtet Stanislava Sherchenko. Sie habe sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass die Geschäfte abends „so früh schließen oder am Sonntag ganz geschlossen sind“. Ob sie in Deutschland bleibt? „50:50“, lautet ihre spontane Antwort. Sie würde gerne Medizin in Deutschland studieren. „Ich weiß nur noch nicht, welche Fachrichtung es sein soll.“ Die Situation in der Ukraine, davon hänge es ab, ob sie zurückkehrt, berichtet die junge Frau. Sie schweigt eine Weile, dann sagt sie: „Ob ich noch einmal in der Ukraine leben will, ich weiß es einfach nicht.“ Aber für ihr Heimatland sei es natürlich gut, wenn die jungen Leute zurückkehrten. Sie weiß, dass ihr Land sie braucht, um es wieder aufzubauen.

Das Berufskolleg in Ennepetal.
Das Berufskolleg in Ennepetal. © WP | Hartmut Breyer

Daria Chepiho (17) teilt das Leid mit ihrer Freundin Stanislava. Deren Großmütter lebten in Charkiw in einem Haus. Die 17-Jährige erzählt, dass sie ihre Meinung, ob sie in Deutschland bleiben will, jeden Monat ändere. „Lange Zeit war ich mit meinen Gedanken noch in Charkiw, ich hatte in Deutschland keine Freunde, wusste nicht, was ich machen sollte.“ Sie will Kosmetikerin werden. Letztlich, sagt sie, spiele es keine Rolle, wo sie Menschen „hübscher macht“.

Fremdeln mit dem Tempo des Lebens in Deutschland

Daria Chepiho versucht, sich mit ihrem neuen Leben in Deutschland zu arrangieren. Ein „klarer Vorteil“ zu ihrem Leben in ihrer Geburtsstadt sei, dass man keine Angst haben müsse, vor die Tür zu gehen. Das sei angesichts der Jugendbanden in so manchem Viertel von Charkiw kaum möglich. Vor allem mit einem hadere sie in Deutschland: „Mit dem Tempo des Lebens“, wie sie sagt. Alles laufe schneller ab. „Früher hatte ich keine Eile.“

Daria Chepiho ist den Deutschen dankbar: „Sie machen so viel für mein Land.“ Bisher aber habe sie noch keine deutschen Freunde gefunden. Alle seien freundlich und zuvorkommend, aber Kontakt habe sie zu Aserbaidschanern, Armeniern und vor allem Ukrainern.

Angst um die Familie

Juliia Kopytko hält sich am Stehtisch der Cafeteria auf. Die Morgensonne wirft gelb-rote Lichtstreifen an die frisch gestrichene Wand. Die 18-Jährige lächelt. Bisher hat sie den Gesprächen schweigend gelauscht. Sie stammt aus Chmelnyzkyj, einer Industriestadt mit 267.000 Einwohnern. Ihre Eltern, berichtet die junge Frau, lebten am 24. Februar 2022 bereits in Polen, als Russland die Ukraine überfiel. Einen Tag später reiste sie per Zug mit ihrem Freund zu ihren Eltern. Jetzt wohnt sie mit ihrem Freund in Gevelsberg.

Thomas Allan ist am Berufskolleg Ennepetal Bereichsleiter für internationale Klassen.
Thomas Allan ist am Berufskolleg Ennepetal Bereichsleiter für internationale Klassen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Juliia Kopytko verbringt die meiste Zeit in den eigenen vier Wänden. Sie bastelt leidenschaftlich Miniaturlandschaften aus Pappe, grünem Moos und kleinen Bäumchen. „Ich versuche dadurch den Kriegsschrecken zu kompensieren, mit der Angst um die Familie, die zurückgeblieben ist, um damit umgehen zu können.“ In Gedanken sei sie bei ihrer Großmutter, die in Chmelnyzkyj geblieben ist. Juliia Kopytko hatte bereits vor dem Krieg Deutsch als Fremdsprache gelernt. „Ich habe lange vor dem Krieg mit dem Gedanken gespielt, nach Deutschland auszuwandern“, so die 18-Jährige. „Verwandte meines Freundes lebten bereits hier.“ Aber all das sollte wesentlich später sein. „Ich möchte mein ganzes Leben in Deutschland bleiben“, beendet sie das Gespräch.

Gemischte Volleyball-Teams

Laut Bereichsleiter Thomas Allan spiele der Krieg im Unterricht keine Rolle, „eher Grammatik“: „Die ukrainischen Schüler haben hier eine Blase, wo sie zur Ruhe kommen. Sie fangen jetzt nach einem Jahr an, dass Ruhrgebiet zu erkunden, zuletzt entlang der Emscher.“ Im Berufskolleg selbst komme es selten zu Konflikten mit den anderen Migranten. „Ganz im Gegenteil, die Schüler lernen miteinander umzugehen.“ Allan nennt ein Beispiel: „Kürzlich spielte ein aus Afghanen und Syrern bestehendes Team gegen ein ukrainisches Volleyball. Das lief nicht reibungslos ab. Die Schüler haben schnell erkannt, dass es von Vorteil sein kann, die Gruppen lieber zu mischen.“ Das sei lehrreich gewesen. Welche Zukunft seine ukrainischen Schüler sehen? Laut Allan unterscheiden sich die Pläne: „Die einen wollen bleiben, die anderen wieder zurück.“ Alles hänge davon ab, wie lange Russland den Krieg in der Ukraine fortführt. Und wie zerstört das Land nach Ende des Krieges ist. Alle müssten sich darauf vorbereiten, dass die jungen Menschen aus der Ukraine länger bleiben.