Hagen. Seit gut einem Jahr ist Friedrich Merz CDU- und Fraktions-Chef. Was sagt eigentlich die Basis der Partei? Das Zeugnis fällt unterschiedlich aus.
Seit gut einem Jahr steht Friedrich Merz (67) ganz oben: als Parteivorsitzender der CDU und Fraktionschef der Union im Bundestag. Zwölf Monate, die thematisch vom Ukraine-Krieg, von der Energiekrise und der Inflation dominiert wurden, in denen Merz aber auch mit umstrittenen Äußerungen auffiel. Etwa über einen „Sozialtourismus“ ukrainischer Flüchtlinge (wofür er sich entschuldigte) oder über „kleine Paschas“ unter Schülern mit Migrationshintergrund, die respektlos gegenüber Lehrerinnen seien. Viele Konservative, auch in der Region, haben Merz als „Heilsbringer“ gesehen, wünschen sich klare Kante. Wie die Partei-Basis die Arbeit von Merz bewertet, zeigt eine Umfrage in der Region.
Sandra Schulte, 46, CDU Olpe:
Ihre Zwischenbilanz: „Ich finde es schade, dass das, wofür er angetreten ist, die Partei neu aufzustellen, sich auf den Markenkern zu konzentrieren, nicht so richtig stattfinden konnte. Das liegt aber vor allem daran, dass wir uns im Dauerkrisenmodus befinden. Friedrich Merz hat aber schon an vielen Stellen Akzente gesetzt, die ihm dann leider um die Ohren geflogen sind.“
Ihre Erwartung: „Meine Hoffnung war, dass man sich mit Friedrich Merz wieder ein klares Profil erarbeitet. Das aber ist noch nicht bis zur Basis vorgedrungen. An der Basis gibt es immer noch ein Gefühl der Orientierungslosigkeit. Die Orientierung erhoffe ich mir von Friedrich Merz. Da bin ich auch nicht hoffnungslos.“
Über „kleine Paschas“, „Sozialtouristen“: „Friedrich Merz spricht vielen Leuten aus der Seele. Es ist wichtig, diese Dinge von einem CDU-Politiker und nicht aus dem rechten Milieu zu hören. Aber es hat mich enttäuscht, dass er zurückrudert.“
Ihr größter Kritikpunkt: „Ich bin enttäuscht, dass Friedrich Merz bei der CDU eine Frauenquote eingeführt hat. Das war das Letzte, das ich von ihm, der für den Leistungsgedanken steht, erwartet hatte.“
Mert Can Cetin, 24, Vorsitzender Junge Union Märkischer Kreis:
Seine Zwischenbilanz: „Die fällt positiv aus, denn ich hatte Schlimmeres befürchtet. Friedrich Merz hat eine sehr direkte, offene Art, seine Gedanken zu äußern. Ich war skeptisch, ob das so gutgeht. Im ersten Jahr hat Friedrich Merz das eine oder andere Fettnäpfchen mitgenommen in der Öffentlichkeit, aber mit dem Vorantreiben des neuen parteiinternen Grundsatzprogramms auch wichtige inhaltliche Akzente auf den Weg gebracht, um die Partei jünger und moderner zu gestalten.“
Seine Erwartung: „Ich war mir nicht sicher, ob Friedrich Merz als der frühere konservative Heilsbringer noch zeitgemäß ist. Deshalb bin ich positiv überrascht, dass er nicht ständig nur auf den Putz haut, sondern auch mal abwägt und bedacht vorgeht. Ich habe ihn bei manchen Themen sehr ausgewogen wahrgenommen, etwa bei der parteiinternen Frauenquote oder beim Hartz-IV-Kompromiss. Da hat er eine konstruktive Opposition vertreten, welche Regierungsgeschehen mitgestaltet. (...) Fettnäpfchen waren die Äußerungen über die ukrainischen ‚Sozialtouristen‘ oder die ‚kleinen Paschas‘.“
Über „kleine Paschas“: „Inhaltlich ist der Aussage nicht zu widersprechen. Ich engagiere mich im Jugendfußball als Trainer. Ich erlebe es immer wieder, dass ein Teil der Jugendlichen unseren Rechtsstaat nicht versteht und nicht akzeptiert – oftmals sind es Menschen mit Migrationshintergrund. Dieses Thema muss auch offen angesprochen werden. Aber ich würde mir wünschen, dass nicht die Rede von kleinen Paschas ist. Viele Menschen mit Migrationshintergrund kennen so etwas wie unseren Rechtsstaat aus ihren Herkunftsländern nicht. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, ihnen das nahezubringen. Die Wortwahl von Friedrich Merz ist da keine Hilfe.“
Joseph Plett, 22, Vorsitzender Junge Union Schmallenberg:
Seine Zwischenbilanz: „Ich habe von Friedrich Merz erwartet, dass er die CDU inhaltlich wieder robuster macht. Man hatte bei der Bundestagswahl das Gefühl, dass Uneinigkeit darüber herrscht, wofür die Partie steht. In der Hinsicht ist noch nicht so viel von Friedrich Merz gekommen. Ich kann auch heute noch wenig darüber sagen, was die CDU wirklich ausmacht. Die FDP steht für Freiheit, die Grünen für Ökologie, die SPD für Soziales. Aber für was steht die CDU? Für das Konservative, wie oft gesagt wird? Das ist für mich noch nicht klar erkennbar. Man kann den Leuten wenig an die Hand geben, wofür die CDU steht.“
Über „Sozialtouristen“, „kleine Paschas“: „Ich finde die Aussagen inhaltlich richtig, aber er muss es geschickter verpacken, damit die Botschaft bei mehr Menschen ankommt. Bei vielen Wählern auf dem Land kommt so etwas besser an, in der Stadt nicht. (...) Friedrich Merz hat mal den Anspruch formuliert, die CDU wieder zu einer 40-Prozent-Partei zu machen. Er ist jetzt in der Realität angekommen. Wähler von der rechten Flanke zurückzuholen wird mit seinem Kurs nicht gelingen. Mit solchen Aussagen schreckt man mehr Leute von der Mitte ab, als Wähler von rechts zu holen.“
„Friedrich Merz weiß, dass er mit seiner Art, solche Themen anzusprechen, bei vielen zu sehr aneckt. Ich glaube, dass es auch in der Partei manchen nicht gefällt, wenn er sich so äußert. Aber man muss erwarten, dass sich der CDU-Vorsitzende bei derartigen Debatten in der ersten Reihe positioniert und sich aktiv einbringt.“
Ann-Kathrin Duchhardt, 29, Junge Union Erndtebrück:
Ihre Zwischenbilanz: „Ich ziehe eine durchaus positive Zwischenbilanz. Es herrschte zuvor ziemlich viel Unruhe in der Partei durch die Vorsitzenden-Suche. Friedrich Merz hat die Partei wieder zusammengebracht, er hat der CDU einen Kurs gegeben. Wir haben wieder Ecken und Kanten. Der Bürger kann sich an der einen oder anderen Äußerung reiben. Wir stehen wieder für was, auch für Ehrlichkeit. Das geht über unsere Kernkompetenzen – Innere Sicherheit und Wirtschaft – hinaus. Friedrich Merz spricht Themen an, die auch die Gesellschaft und ihre Probleme betreffen.“
Über „kleine Paschas“: „Wir waren mit diesen Themen in aller Munde. Jeder hat darüber gesprochen. Da stand mal wieder jemand für die Probleme ein, die in der Gesellschaft gewisse Tendenzen hervorbringen. Das waren auch Punkte, an denen man sich reiben konnte. (…) Ich lebe und arbeite im ländlichen Raum (als Lehrerin, d. Red.), da ist die Welt noch in Ordnung. Aber es gibt genügend Studien zu dem Thema, und man hört es auch, wenn man mit den Lehrkräften aus den Metropolen spricht, dass es da die von Friedrich Merz angesprochenen Tendenzen gibt. Es ist kein Problem, das neu ist. Über die Wortwahl von Friedrich Merz kann man diskutieren. Aber wir müssen Probleme auch ansprechen dürfen.“
Über die Frauenquote: „Es sollten Leistung und Knowhow zählen. Einen Posten zu bekommen, nur weil ich eine Frau bin, das reicht nicht.“
Willi Strüwer, 68, CDU Hohenlimburg:
Seine Zwischenbilanz: „Ich bin positiv gestimmt. Die CDU hat nach den jahrelangen Querelen über interne Personalien den Weg in eine konstruktive Oppositionspolitik gefunden. Friedrich Merz geht die Dinge sehr pragmatisch an. Wenn man ihn vor fünf Jahren darauf angesprochen hätte, mit welcher Selbstverständlichkeit heute die CDU in NRW oder in Schleswig-Holstein mit den Grünen zusammenarbeitet, da hat bei ihm ein Paradigmenwechsel stattgefunden.“
„Friedrich Merz hat die Partei sowohl personell als auch sachpolitisch umstrukturiert. Das ist gut gelungen. Es gibt auch nicht mehr den Zwist zwischen den einzelnen Landesverbänden. Es ist zu beobachten, dass da sehr viel Konsens herrscht und weniger interner Zwist.“
Über „Sozialtouristen“, „kleine Paschas“: „Merz muss mit den Begrifflichkeiten sorgfältiger umgehen. Ich würde mir wünschen, dass er, wenn er provokante Äußerungen in den Raum stellt, die Erklärung des Gesamtzusammenhangs deutlicher macht. In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, dass er zurückgerudert ist, nachdem er eine Debatte angestoßen hat. Bestimmte Worte werden allerdings auch auf die Goldwaage gelegt, während all das, was erklärend gesagt wird, sich nicht in der medialen Berichterstattung wiederfindet.“
Kürsat Özcan, 24, Vorsitzender Junge Union Siegen:
Seine Zwischenbilanz: „Als Oppositionsführer hat Friedrich Merz vernünftige Arbeit geleistet. Es ist ihm gelungen, für Aufsehen zu sorgen und Debatten anzustoßen. Vor allem hat er es geschafft, zwei wichtige Wahlen zu gewinnen, in Nordrhein-Westfalen und in Berlin. Außerdem hat er sowohl die Partei als auch CDU und CSU geeint. (...) Friedrich Merz war auch mein Wunschkandidat, er ist und bleibt – ungeachtet seines Alters – ein Hoffnungsträger. Aber es gibt gewisse verbale Ausrutscher. Auch wenn er momentan in der Rolle des Oppositionsführers ist und sich wahrscheinlich dieses Sprachgebrauchs bedienen muss, um im Gespräch zu bleiben, stehe ich Äußerungen wie ‚Sozialtouristen‘ oder ‚kleine Paschas‘ kritisch gegenüber, weil sie der Integration nicht dienlich sind.“
Über „kleine Paschas“: „Meine Erfahrung ist, dass man nicht pauschalisieren kann. Ich kann nicht bestätigen, dass die Mehrheit der arabischen Jungs ein solches Gemüt hat (Kürsat Özcan arbeitet als Polizist, d. Red.). Insofern kann ich seiner Aussage in der Form nicht zustimmen. In welchem Punkt ich zustimmen kann, ist, dass Jugendliche, die unseren Rechtsstaat verachten, mit aller rechtsstaatlichen Härte zur Rechenschaft gezogen werden müssen, ungeachtet der Herkunft.“
Klartext von Merz: „Ich sehe da einen Zwiespalt, es ist sicher keine einfache Situation für ihn. Auf der einen Seite finde auch ich es gut, dass man klare Kante zeigt und klare Worte findet, weil es auch dem Wunsch der Basis entspricht; wir müssen Probleme erst mal klar benennen, um sie dann lösen zu können. Gleichwohl muss Friedrich Merz einen Spagat bewältigen, weil Klartext auch damit verbunden sein kann, die Gefühle von anderen Menschen zu verletzen.“