Brilon. Zwangsstörungen bestimmen das Leben eines Briloners – bis er sich einer seltenen und nicht unumstrittenen Behandlungsmethode unterzieht.
An die schlimmste Zeit erinnert sich der Mann, der hier Ruben Regen heißen soll, sehr genau. 15 Kilometer waren es damals für ihn zur Arbeit bei der Bank. Wertpapiergeschäft, Topleister sei er gewesen, sagt er. Sechs Stunden brauchte er für die kurze Fahrt. „Ich wusste, dass das der größte Bullshit ist, den ich da anstelle, weil ich wusste, dass es keinen Unterschied macht. Aber ich konnte es nicht ändern“, sagt der heute 61-Jährige. Die Emotion ist stärker als der Verstand, das ist das Problem bei Menschen, die unter Zwängen leiden.
Er wendete also. Fuhr zurück. Zurück zu dem Schild oder der Ampel, jedenfalls zurück zu dem Reiz, auf dessen Höhe er seine Gedanken nicht unter Kontrolle hatte, bei dem er an Tod oder anderes Schlimmes dachte. „Man macht sich als Zwängler ständig Sorgen, dass Menschen, die man liebt, etwas Schlimmes passieren könnte.“ Und er, so fühlt sich das an, kann es verhindern. Indem er die Ampel oder das Schild oder was auch immer erneut passiert, nur dieses Mal ohne schlechte Gedanken. Aber wer je versucht hat, auf Befehl nicht an einen rosafarbenen Elefanten zu denken, der weiß, dass das schwierig sein kann. Ruben Regen wendete und wendete und wendete.
20 mal die Kleidung an- und wieder ausziehen
Wiederholungszwang nennt man das, was ihn plagte, was ein normales Leben nicht mehr zuließ. Er öffnete und schloss Türen wieder und wieder. Auf 200 Metern Fußweg kniete er sich bis zu 50 Mal hin oder ging zurück. Jedes Kleidungsstück zog er morgens 20 mal an und wieder aus. „Zehn Stunden Arbeit, zehn Stunden Zwang am Tag, da bleibt nicht mehr viel.“ Pause. „Ich war im Vorhof der Hölle.“
Ruben Regen sitzt auf der Couch in seinem Wohnzimmer in Brilon im Hochsauerlandkreis, an der Wand hängen zwei kleine Bilder von Bruce Springsteen, auf dem Regal liegt ein Buch über Bruce Springsteen und im Flur steht eine lebensgroße Pappfigur von Bruce Springsteen. Ein Geschenk des heute erwachsenen Sohnes. Die Musik vom Boss half Ruben Regen.
Auf dem Tisch liegt ein Ladegerät. Nicht fürs Handy, sondern für Ruben Regens neues Leben.
Denn er steht unter Strom. Als er mit gerade 40 keinen Ausweg mehr wusste, stieß er auf einen Aufruf für eine neuartige medizinische Studie in Köln zur Tiefen Hirnstimulation, auch Hirnschrittmacher genannt. Die Verzweiflung ließ ihn anrufen. Er bekam einen Platz.
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Sechs bis acht Stunden dauerte die OP: Dabei wurde ihm eine winzige Elektrode ins Gehirn implantiert. Elf Zentimeter tief. Kaffeebohnengroß sei der Bereich des Hirns, in dem eine ganz bestimmte Stelle angesteuert werde, sagt Regen. Verbunden ist die Elektrode über ein dünnes Kabel, das dicht unter der Haut verläuft, mit einem Stimulator, einem Gerät groß wie eine Streichholzschachtel, das in die rechte Brust implantiert ist. Der Stimulator ist aufladbar, ein, bis zweimal in der Woche für jeweils zwei bis drei Stunden muss Ruben Regen das Aufladegerät auf die Brust kleben.
Sechs Volt helfen, um Zwangshandlungen zu unterdrücken
Sechs Volt fließen seither, die eine übermäßige Nervenaktivität in einem bestimmten Hirnareal normalisieren und Zwangshandlungen unterdrücken helfen sollen. Regen ist einer der ersten Zwangspatienten, bei dem das Verfahren angewendet wurde. Eines, das durchaus Kontroversen unter Ärzten auslöst. Zum Beispiel zur Frage, ob der Eingriff nicht die Persönlichkeit, das Wesen verändert. Ob die Seele und das Ich angetastet werden.
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Grau ist der Bart im Gesicht von Ruben Regen, das zeugt davon, dass dieses Leben bis hierher Kraft gekostet hat. Ihn, klar, aber auch die Frau, den Sohn. Die Zwänge waren nicht zu kaschieren, sie fallen den Menschen auf. „Sie wollen nicht als verrückt gelten, denn Sie sind es ja nicht“, sagt er. Doch der Impuls, dem Zwang nachzugeben, ist immer größer gewesen.
Mit 14 fing das alles an. Da war alles noch beherrschbar. Er weiß noch, dass er fürs Leistungstanzen eine neue Partnerin suchte und in der Zeitung inserierte. Als er die Antworten abholen wollte, ging er dreimal durch die Tür. Was soll’s? „Aber das Schlimme ist, dass die Krankheit sich steigert.“
Stress befeuert das Gedankenkarussell
Waschzwänge hatte er, Kontrollzwänge dann. Es gibt eine Punkteskala, die bis 40 reicht für schwere Fälle. Regen ist so ein Fall. 20 verschiedene Antidepressiva habe er während seiner Leidenszeit verschrieben bekommen. Keines habe geholfen. Nach der achtwöchigen stationären Therapie lief er bei der Abreise mit seinen Koffern über die Straße – hin und zurück und hin und zurück. Stress befeuert das Gedankenkarussell.
Mit der Tiefen Hirnstimulation lassen sich Krankheitsbilder wie Parkinson oder Zittern (Tremor) heutzutage oft gut behandeln (siehe Infos weiter unten). Bei Depressionen und Zwangsverhalten ist die Forschung über erste Studien und Individualtherapien noch nicht hinaus.
Nach der OP habe es eine Weile gedauert, bis alles besser wurde. Auch weil die Mediziner zunächst die richtigen Einstellungen für ihn finden mussten. Irgendwann habe er sich nach fünf Jahren, in denen er nicht mehr Auto gefahren war, wieder ans Steuer gesetzt. Und sei gefahren. 120 Kilometer am Stück. Wenn er diesen Zwang jetzt kontrollieren konnte, dann doch auch die anderen. Er konnte. „Zu 90 Prozent bin ich heute zwangsfrei.“
Zu Springsteen aufs Konzert? Das ist wieder möglich
Es geht ihm nicht fantastisch, aber viel, viel besser. Er kann nach Holland in den Urlaub, er kann auch mal zu Springsteen aufs Konzert. Der Impuls zur Zwangshandlung kommt schon noch zurück. „Aber die Hürde, die ich nehmen muss, um ihn zu überwinden, ist nicht mehr fünfzehn Meter hoch, sondern nur noch sechs“, sagt er.
Sein richtiger Name ist nicht Ruben Regen. Er will ihn nicht veröffentlicht wissen, weil er schlechte Erfahrungen mit manchen Ärzten gemacht habe, die ihn mit Argwohn oder gar nicht behandelten, weil er einen Hirnschrittmacher hat.
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Was die Leute dächten, die Nachbarn im Ortsteil, das sei ihm recht egal. Viele wüssten um seine Geschichte. Und Kontakte knüpfen sei eh nicht leicht für einen, dessen Krankheit viele sein Leben lang nicht verstanden haben. Das schafft gegenseitiges Misstrauen. Fast 30 Jahre hat er so gelebt. „Das ist eine Narbe, die bleibt“, sagt er.
Trotzdem erzählt er seine Geschichte, weil er will, dass andere von der Existenz der Tiefen Hirnstimulation erfahren. Er glaubt, dass einige Mediziner nicht überzeugt sind wegen möglicher Nebenwirkungen. „Ich möchte eines: Dass andere, die in meiner Lage sind, von Ärzten auf die Möglichkeit dieser Behandlung hingewiesen werden – egal wie der Arzt das findet.“
>> INFO: Bei vielen unbekannt und nicht unumstritten
Die Tiefe Hirnstimulation (THS) ist zur Behandlung vieler neurologischer Erkrankungen zugelassen. Durchgesetzt hat sie sich vor allem zur Behandlung von Parkinson-Patienten, wie Professor Lars Timmermann (Foto) berichtet. Er ist Direktor der Klinik für Neurologie an der Uniklinik Marburg sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).
„Wenn unser Gehirn nicht optimal funktioniert, dann ist die Kommunikation zwischen den verschiedenen Hirnarealen aus dem Takt geraten – wie zum Beispiel bei der Parkinson-Erkrankung oder bei Tremor, also Zittern“, sagt der Mediziner. Eine Elektrode könne „diesen Takt normalisieren und den Patienten so dramatisch helfen“.
Bei Depressionserkrankten komme die Behandlung derzeit nur im experimentellen Rahmen oder in Studien zum Einsatz. Die Anwendung bei Patienten mit Zwangserkrankungen sei eher eine Seltenheit. Wichtig sei bei der THS eine sorgfältige Auswahl der Patienten. Timmermann: „Denn es kann durch die Tiefe Hirnstimulation zu Persönlichkeitsveränderungen kommen. Manche Patienten sind plötzlich ganz wild unterwegs und beginnen, Beziehungseskapaden auszuleben und ihre Persönlichkeit exzessiv auszuleben. Andere fallen eher in ein depressives Loch. Obwohl bei den ursprünglichen Symptomen eine Verbesserung eintritt, verschlechtert sich die Lebensqualität.“
Timmermann bestätigt, dass die Sichtweise auf den medizinisch-ethischen Aspekt zu einer Spaltung der Ärzteschaft in Befürworter und Gegner führen kann. Experten seien zum Schluss gekommen, „dass der Eingriff juristisch, medizinisch und ethisch vertretbar ist“. Daher sollten Patienten selber entscheiden können.