Hagen. Der Hagener Christian Erlemeyer spricht offen über seinen Kampf mit dem Gewicht – und die Kompensation von Stress und Frust durch Essen.

Christian Erlemeyer blickt auf ein Foto, das soeben von ihm geschossen wurde. Er sitzt, hat seine Tochter auf dem Arm, drei Jahre alt. Beide lachen offen. Ein schönes Bild. Erlemeyer verzieht erst leicht das Gesicht, lächelt dann aber: „Koloss von Rhodos“, sagt er nur. Und meint sich. „Ich bin mit meinem Körper gerade nicht glücklich.“

100 Kilogramm abgenommen nach einer Magenverkleinerung

So geht es vielen Menschen, aber die Reise von Christian Erlemeyer führt über höhere Höhen und durch tiefere Täler. Einst wog er 221 Kilogramm und fühlte sich allein mit seinen Problemen. Deswegen gründete er das Adipositas-Netzwerk NRW. Nach einer Magenverkleinerung2014 nahm er innerhalb eines Jahres irrsinnig viel ab, wog vor vier Jahren nur noch 120 Kilogramm. Eine Erfolgsgeschichte – eigentlich. Umso mehr schmerzt der jetzige Rückschlag. Wie man damit umgeht? Auch darüber spricht der 38-Jährige.

Ein Foto aus dem Jahr 2018: Christian Fricke zeigt eine Hose aus seinem alten Leben. Er hatte damals mehr als 100 Kilo abgenommen und das Adipositas Netzwerk NRW ins Leben gerufen.
Ein Foto aus dem Jahr 2018: Christian Fricke zeigt eine Hose aus seinem alten Leben. Er hatte damals mehr als 100 Kilo abgenommen und das Adipositas Netzwerk NRW ins Leben gerufen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Auf den Bildern von damals fühle ich mich attraktiver“, sagt Erlemeyer (früher Fricke). Er sagt, dass er es zuletzt hat schleifen lassen. Das wieder zu ändern ist aber manchmal schwer. Ein Kampf. Mit sich. Mit den Umständen. Permanent. „Es ist wie bei einem trockenen Alkoholiker: Jeden Tag ist absolute Disziplin gefragt.“ 150 Kilogramm wiegt er zur Zeit. „Das sind 30 Kilogramm zu viel, die mich wurmen.“

Essen als Kompensation von Frust und Stress

Essen ist für Christian Erlemeyer immer schon mehr als nur bloße Nahrungsaufnahme gewesen. Früher hat er viel mit sich allein ausgemacht. Mittlerweile hat er gelernt, darüber offen zu sprechen. „Ich habe mit Essen viel kompensiert. Mangelnde Zuneigung. Oder Stress. Oder wenn ich schon gut gelaunt war, dann habe ich mit Essen die Glücksgefühle noch verstärkt. Ein All-you-can-eat-Buffet konnte mir einen richtigen Kick geben“, sagt er: „Bis an die Grenzen zu essen war ein Highlight.“

Wer das einmal so intensiv erfahren hat, der ist nicht plötzlich darüber hinweg, weil er schlank ist. Innerhalb der vergangenen vier Jahre haben sich viele Kilos wieder aufgebaut, von denen er sich eigentlich schon verabschiedet hatte. Sein Großvater starb in dieser Zeit. Zu ihm hatte er eine besondere Beziehung, weil er bei ihm aufwuchs. Mit Hilfe eines Psychotherapeuten arbeitet er das auf. Und Corona sorgte dafür, dass die Geburten seiner beiden Kinder – Leni (3 Jahre) und Max (10 Monate) – von vielen Sorgen und Einschränkungen begleitet waren.

Falsche Verhaltensweisen schleichen sich ins Leben zurück

Der frühere Hagener, der jetzt in Gevelsberg lebt, sagt, dass es ihm gut gehe. Sein Job in einem Baustoffunternehmen gefällt ihm, die Kollegen sind nett, fürsorglich. Er hat eine Frau, die er liebt, ein Häuschen, die beiden Kinder. Und doch schlichen sich zuletzt die falschen Verhaltensweisen wieder ein. „Es ist wie eine Sucht.“ Manchmal belohnte er sich mit leckerem Essen, wenn er etwas geleistet hatte, über das er sich freute. Manchmal half das Essen über schwere Momente hinweg. Und so kamen die Risiken zurück in sein Leben.

+++ Tipps für ein gesundes Leben +++

Plötzlich passten die schönen neuen Jeans nicht mehr. Jeder Neukauf wie eine kleine Niederlage. Das Wort Therapieversager geistert durch seinen Kopf. „Mit jedem Kilo mehr hat man mehr Einschränkungen, wie man sich kleiden und bewegen kann“, sagt Erlemeyer und sein Gesichtsausdruck verrät, dass er das gar nicht mag. Den Weg zurück, den muss und will er jetzt finden. Um auch anderen wieder zu zeigen, dass es geht. Er hält Vorträge zum Thema Adipositas und den Umgang damit.

„Es ist wichtig, sich selbst zu reflektieren. Wenn man traurig, einsam oder unzufrieden ist, muss man sich das erst einmal eingestehen. Und wenn man merkt, dass man allein mit dem Problem nicht klarkommt, dann sollte man sich Hilfe holen.“ Vom Hausarzt, von der Familie, von Freunden.

Mehr Raum für Glück

Das ist ein Rückhalt, den er spürt. Er will das Schlechte nun hinter sich lassen, um dem Glück mehr Raum zu geben. „Meine Familie, die Kinder – die geben mir so viel, sie spielen eine riesige Rolle dabei, mich zu motivieren“, sagt er. Dieses Wohlfühlen sei unglaublich wichtig, um seinem Leben eine neue Wende Richtung weniger Gewicht zu geben. „Für eine Lebensumstellung muss man bereit sein, muss man die Kraft haben.“

Es ist ein Balanceakt, zumindest klingt es so. Er will sein Glück nicht zu sehr von seinem Gewicht abhängig machen, es aber doch reduzieren. Er will damit anfangen, vielleicht hat er es sogar schon. „Ich will das nicht auf irgendwann schieben. Jede gute Mahlzeit ist ein Anfang.“ Zuletzt habe er häufiger schon wieder Salat gegessen. So soll es weitergehen. In kleinen Schritten. Ohne den großen Druck und zu hohe Ziele. „Und immer in dem Wissen, dass Schwächen normal sind.“ Und nichts, für das man sich schämen müsste.

<<< HINTERGRUND >>>

Dem Adipositas Netzwerk NRWhaben sich mehr als 3000 Betroffene angeschlossen. Von Adipositas (Fettleibigkeit) spricht man, wenn das Übergewicht stark und der Fettanteil übermäßig hoch ist. Adipositas ist eine chronische, in Deutschland weit verbreitete Krankheit, die zu schwerwiegenden Folgeerkrankungen führen kann und häufig mit einer Einschränkung der Lebensqualität und Verkürzung der Lebenszeit verbunden ist.