Lüdenscheid. Die Verhandlungen zum Grunderwerb ziehen sich in manchen Fällen noch hin. Das Ehepaar Gern hat sein Haus verkauft - und ist glücklich.

Manchmal, sagt Monika Gern, sitzt sie fast ungläubig da und merkt, wie Tränen in ihr aufsteigen. Tränen des Glücks, weil sie diese Wendung in ihrem Leben nicht zu hoffen gewagt hatte. Weil sie noch vor einem Jahr große Angst vor der Zukunft hatte. Nun ist diese Zukunft schon da, aber zauberhaft. „Mein Mann und ich sitzen fast jeden Abend im Wohnzimmer, schauen über den Balkon ins Tal und sehen der Sonne beim Untergehen zu“, sagt die 72-Jährige. „Es ist so schön als schauten wir gemeinsam aufs Meer.“

Monika und Rolf Gern im Februar 2022. Links: Das Haus, das sie mittlerweile verkauft haben.
Monika und Rolf Gern im Februar 2022. Links: Das Haus, das sie mittlerweile verkauft haben. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Ein Meer gibt es im sauerländischen Lüdenscheid bekanntermaßen nicht, nur ein Meer von Problemen. Und viele davon hängen mit der mittlerweile deutschlandweit bekannten Talbrücke Rahmede zusammen. Bis Dezember vergangenen Jahres trug sie den Verkehr der Autobahn 45. Doch weil sie marode geworden war unter der Last, wurde sie gesperrt. Bald wird sie gesprengt und neu gebaut. Mindestens bis 2026 soll das alles dauern.

Das Zuhause in unmittelbarer Nähe zur Brücke

Für alle, die direkt an der Bücke wohnen bedeutet das: Leben in einer Baustelle. Und für viele von denen: Teile des eigenen Grundstücks an die Autobahn GmbH zu verkaufen oder zu vermieten, damit die Brücke gesprengt werden kann, damit das Fallbett aus 60.000 Tonnen Material aufgeschüttet werden kann, damit die Baustelle irgendwann in Betrieb genommen werden kann. Der Fall der Gerns zeigt, dass all das sich in Glück verwandeln kann. Aber so läuft es ja längst nicht immer, was der Autobahn GmbH Kopfzerbrechen bereitet.

+++ A-45-Brücke: Die Suche nach der Firma für den Neubau beginnt +++

Die Gerns wohnten direkt an der Brücke, einer ihrer Pfeiler ragte am Rande ihres steil zur Brücke hin ansteigenden Grundstücks in die Höhe. Das war ja das Problem: die unmittelbare Nähe zur Brücke. 32 Jahre lang haben die Gerns dort gewohnt. Sie haben die Zimmer renoviert, eine Terrasse gebaut, einen Teich angelegt, eine Tochter großgezogen, das große Grundstück bewirtschaftet und Bäume gepflegt, auf die man gern blickt und die den Schall schlucken.

Lebensabend in Lärm und Schmutz und Dreck

Plötzlich im Frühjahr stand ohne Vorwarnung ein Mann auf ihrem Grundstück und rammte einen Pflock in den Boden. Sie dachten damals, dass es jetzt losgehen würde. Dass der erste Tag von unzähligen gekommen sei, an dem sie ihren Lebensabend in Lärm, Dreck und Schmutz verbringen mussten: gezwungen zu bleiben, weil niemand ihr Haus und das Grundstück würde kaufen wollen. „Wir wissen nicht, wie wir hier leben sollen“, sagte Monika Gern damals.

+++ A-45-Brückendesaster: Verkehrsminister nimmt Wüst in Schutz +++

Erst entschuldigte sich die Autobahn GmbH für den unangekündigten Besuch des Mannes mit dem Pflock. Durch die Tatsache, dass eine Sprengung umsetzbar war, wurde klar, dass nicht nur ein 40 Meter breiter Korridor des Grundstücks gebraucht würde, sondern alles­. Monika Gern weiß das Datum auswendig: 1. Juni. „Als die freundlichen Damen von der Autobahn GmbH uns an dem Tag gefragt haben­, was wir davon hielten, wenn sie uns das gesamte Grundstück abkauften­, haben wir sofort Ja gesagt – ohne irgendein Detail zu kennen.“

Grunderwerb verzögert die Planungen

So ist das keineswegs immer. Zwischenzeitlich waren es einmal 50 Grundstücke oder Grundstücksteile, um deren Nutzung die Autobahn GmbH Verhandlungen mit den Besitzern führte. Manche erwiesen sich als so hartleibig, dass neue Planungen erstellt wurden, bei denen weniger private Flächen benötigt werden. Die Zahl sank zwischenzeitlich auf 33 Grundstücke. Im August lagen in diesen Fällen erst elf Einigungen vor, ein Drittel.

Zehnfach erhöhte Forderungen habe es gegeben, sagte Elfriede Sauerwein-Braksiek im Interview mit dieser Zeitung schon im Sommer. Was sie damals schon befürchtete, ist mittlerweile Realität: dass diese Verhandlungen zu einer Verzögerung führen. Bis zum 18. Dezember 2022 sollte die Brücke gesprengt werden, das hatte Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) versprochen. Wegen Problemen bei der Ausschreibung der Sprengung und eben jenen Grundstücksverhandlungen werde die Sprengung nun aber erst 2023 erfolgen, wie die Autobahn GmbH nun auch offiziell mitteilte.

„Die meisten Grunderwerbsverhandlungen sind inzwischen abgeschlossen“

Im Herbst sollten dem Fernstraßenbundesamt alle Unterlagen – Einigungen mit Behörden, Verbänden, Anwohnern – vorliegen, damit dort Baurecht ohne Planfeststellungsverfahren erteilt werden kann. Auch der Prozess scheint sich zu verzögern, wenngleich die Autobahn GmbH auf Nachfrage beschwichtigt. „Die meisten Grunderwerbsverhandlungen sind inzwischen abgeschlossen oder befinden sich kurz vor Abschluss. Bei den offenen Flächen befindet sich die Autobahn GmbH weiterhin in Gesprächen.“ Sind die Fronten verhärtet? Antwort: Man habe „in allen Fällen das Ziel, eine Einigung zu erreichen“.

+++ Geplatzter Sprengtermin: Wie geht es mit der A-45-Brücke weiter? +++

Mit den Gerns ging das schnell. Ein Gutachter ermittelte den Wert von Haus und Grundstück, ein Vertrag wurde aufgesetzt, mit dem die Gerns „sehr zufrieden“ sind. Sie wollten ja einfach nur weg. Wobei der körperlich beschwerliche Teil ja noch folgte: Wohnungssuche und Umzug. „Wir haben quasi am gleichen Tag noch angefangen, nach einer Alternative zu suchen, aber es war schwierig.“ Sie überlegten sogar, die Suche bis nach Wetter und Herdecke auszuweiten.

Doch inmitten eines dieser typischen Gespräche, in denen man sagt, dass man eine Wohnung sucht und ob nicht einer einen kennt, der einen kennt, meldet sich eine Dame, die Nachmieter suchte. „Als wir da reinkamen, wussten wir sofort: Die ist es!“

Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen

Stadtnah, helle 100 Quadratmeter, Mietvertrag ab September, im Oktober Schlüsselübergabe vom Haus, für dessen Nachnutzung die Autobahn GmbH Sorge trägt. „Dieser Umzug hat uns an unsere Grenzen gebracht“, sagt Monika Gern. „Nach 55 gepackten Kartons habe ich aufgehört zu zählen.“

Aber für die Mühen wird sie nun jeden Tag belohnt. Mit Ruhe, mit der Aussicht, mit der Gewissheit, dass dieses Mal der Blick aufs neue Jahr viel zufriedener ausfällt. „Letztes­ Jahr an Silvester haben wir dagesessen und waren voller Sorge“, sagt sie: „Jetzt schlagen wir ein neues Kapitel in unserem Leben auf.“

Neulich waren die beiden in Aachen, dort haben sie sich kennengelernt. Im Dom zündeten sie eine Kerze an. Aus Dankbarkeit.