Lüdenscheid. Der Verkehrsminister besucht erstmals die marode Brücke. Warum ihn ein Reizklima erwartet und wieso das Tesla-Werk ein Vorbild sein könnte.
Im vorletzten Jahrhundert reiste man schon in 80 Tagen um die Welt. Es dauert aber deutlich länger, bis es Dr. Volker Wissing nach Lüdenscheid schafft. Am Donnerstag nun wird der Bundesverkehrsminister in der Stadt erwartet, in der eines der aktuell größten Infrastruktur-Debakel Deutschlands zu besichtigen ist: die Talbrücke Rahmede, die wegen Einsturzgefahr seit dem 2. Dezember 2021 gesperrt ist – seit 250 Tagen.
Die Anwohner leiden, die drittgrößte Wirtschaftsregion Deutschlands ist ausgebremst. Wissing, der den zügigen Neubau der Brücke zur Chefsache ernannte, macht sich unterhalb der Brücke selbst ein Bild. Zudem wird er das Gespräch mit Bürgern und Wirtschaft suchen. Das erwartet den Minister...
… unter der Brücke: Wissing wird zwei steile Hänge sehen, auf denen die Arbeiten derzeit eher ruhen. Im Südhang finden in diesen Tagen die letzten Bohrungen für das Bodengutachten statt. Derzeit geschehe „ein Großteil der Arbeit im Büro“, heißt es von der Autobahn GmbH Westfalen. Die Behörde muss zum Beispiel noch Einigung mit den Grundstücksbesitzern erzielen, die Teile ihrer Immobilie temporär oder dauerhaft abtreten sollen.
+++ Autobahn-Chefin: Anwohner könnten Brückenbau verzögern +++
Dies jedoch bleibt heikel: Erst mit einem Drittel der betroffenen Parteien gibt es einen unterschriebenen Vertrag (Stand: vergangene Woche). Elfriede Sauerwein-Braksiek, Direktorin der Autobahn GmbH, berichtete im Juni von bis zu zehnfach erhöhten Forderungen seitens der Anwohner. Diese Forderung läge im hohen fünfstelligen Bereich, wie die Behörde auf Nachfrage mitteilt. Derzeit würden Ersatz-Pläne erarbeitet, in denen Grundstücke, deren Erwerb allzu fragwürdig erscheint, keine Berücksichtigung mehr finden. Möglicherweise auch deswegen ist die Zahl der benötigten Grundstücke bereits gesunken: von rund 50 im März auf 33.
… von den Bürgern: Es herrscht Reizklima. Viele Anwohner fühlen sich im Stich gelassen, weil aus ihrer Sicht selbst die Tiere an der Brücke mehr Rechte genießen als die Anwohner, die die Autobahn direkt vor der Tür haben und nicht mehr schlafen können. Für die Tiere aber ist gut gesorgt. Gebaut wurden: ein Ersatzquartier (Nistkasten) für den Wanderfalken, zwei Stollenöffnungen für Fledermäuse, sieben hölzerne Fledermaustürmchen (6 m hoch), ein Betonturm als Pfeilerersatz (4x4x8 m) für Fledermäuse, 40 Fledermauskästen an umliegenden Gebäudefassaden. 200 Haselmaustubes wurden im Baufeld aufgestellt, regelmäßig kontrolliert und bei einem Fund auch in ein neues Habitat umgesiedelt. Geplant sind weiter: ein zweiter Betonturm für Fledermäuse, 40 Fledermauskästen an Gebäuden, ein Wanderfalkennistkasten, 100 Haselmaustubes. Kosten bisher: rund 100.000 Euro.
+++ Rahmedetalbrücke: 40.000 Quadratmeter Wald müssen gerodet werden +++
Für die Menschen hat die Politik ein Gesetz verändert, das es den Anwohnern an der Ausweichstrecke ermöglicht, mit finanzieller Unterstützung Lärmschutzmaßnahmen vorzunehmen. 24 Anträge sind bisher eingegangen, 13 wurden bewilligt, 2 befinden sich wegen fehlender Unterlagen in der Nachforderung, 9 wurden abgelehnt.
Rene Jarackas wohnt direkt an der Umleitungsstrecke und ist eine der treibenden Kräfte der Bürger-Initiative A 45. „Unerträglich und gesundheitsgefährdend“, sagt er, sei die Situation. Lärmschutzwände wollte er bei sich aufstellen lassen. Vom Bauamt Lüdenscheid habe er dafür eine Duldung erhalten. Heißt: Steht die neue Brücke, müssten die Wände wieder weg.
„Der Minister ist mit seinem Besuch viel zu spät, aber trotzdem ist es gut, dass er kommt – zumindest wenn er sich etwas von dem annimmt, was wir ihm berichten“, sagt Jarackas, der am Donnerstag dabei sein wird, wenn der Minister um 15.30 Uhr auf die Bürger trifft. Die Bürger-Initiative hat einen Katalog mit Fragen und möglichen Lösungen entworfen, die sie vorstellen will – und den sie Wissing als gedruckte Version mit auf den Weg geben wird. Wichtigste Forderung: den Transitverkehr aus der Stadt zu verbannen.
Wallburga Jung ist 81 Jahre alt und hat eine Petition ins Leben gerufen zur schnellen Realisierung des Neubaus. 13.500 Unterschriften hat diese schon. Sie will den Minister ebenfalls treffen und ihn fragen, warum dem Bau keine Sonderrechte eingeräumt werden und wie der Bau beschleunigt werden soll.
… von der Wirtschaft: Auch beim anschließenden Wirtschaftsgespräch sollte der Gast nicht mit Sympathiebekundungen rechnen, denn die Unzufriedenheit ist gewaltig. Auf Einladung der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer wollen etwa 40 Unternehmer, Gewerkschafter sowie Arbeitnehmervertreter mit Wissing diskutieren. Sie fordern einen schnellen Neubau. Die immer wieder genannten fünf Jahre Bauzeit, die aber niemand in Berlin offiziell bestätigen möchte, würden der Industrie in der Region den Todesstoß versetzen, heißt es. Wissing habe diese Dimension noch nicht verstanden.
… vom Umweltverband: Am Donnerstag mit dabei ist auch der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Er beharrt auf ein Planfeststellungsverfahren mit Umweltverträglichkeitsprüfung. Das habe eine Delegation bei einem Besuch des Fernstraßenbundesamtes (FBA) in Leipzig noch einmal deutlich gemacht, sagte Klaus Brunsmeier aus Halver, Vorstandsmitglied des BUND in NRW. Nur so lasse sich Rechtssicherheit gewährleisten, sagte er dieser Zeitung. Zudem garantiere die Variante „Planverzicht im Falle unwesentlicher Bedeutung“ gar keinen Zeitgewinn, denn man könne jetzt schon einen vorzeitigen Maßnahmenbeginn in die Wege leiten. „Niemand ist gegen den Neubau der Brücke. Wir auch nicht. Es liegt nicht an uns, wenn es nicht weiter geht“, so Brunsmeier.
Ein Baubeginn sei jederzeit möglich, so wie etwa bei der Tesla-Fabrik in Brandenburg. Eine ordentliche Planfeststellung sei auch deshalb „klüger“, weil offenbar noch nicht alle vom Neubau betroffenen Anwohner ihr Einvernehmen erklärt hätten. Eine mögliche rechtliche Auseinandersetzung sei mit ihnen ihm Rahmen einer Planfeststellung einfacher also ohne.