Hagen. Erstmals sind Teile des Privatarchivs der Familie Osthaus zugänglich. Daraus ergibt sich ein neues Bild der Hagener Gründer des Museums Folkwang
Der Diplomat Harry Graf Kessler blickt mit dem Hochmut seiner aristokratischen Kaste auf den Hagener Kunstpionier und Sammler Karl Ernst Osthaus, dessen Millionen aus der Kleineisenfabrikation stammen. Er bescheinigt Osthaus nach einem Besuch in Hagen 1907 „Halbkultur“ und „schlechte Manieren“. Die Hagener selbst reagieren teils verwirrt, teils boshaft auf Osthaus‘ Pläne, sein Erbe für ein Museum auszugeben, mit verrückten Bildern von Malern, von denen man noch nie gehört hat wie Matisse oder van Gogh. In diesem Spannungsfeld zwischen der Sehnsucht, die Welt durch Schönheit zu verbessern und dem Zerbrechen der Utopie an den Realitäten siedelt der Kunsthistoriker Prof. Dr. Rainer Stamm seine neue Biographie über Gertrud und Karl Ernst Osthaus an.
Ein Zeitgemälde
50 Jahre nach der großen Osthaus-Monografie von Herta Hesse-Frielinghaus von 1971 legen Rainer Stamm und seine Frau, die Kunsthistorikerin Gloria Köpnick, mit dem Band „Karl Ernst und Gertrud Osthaus. Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt“ eine Untersuchung vor, die dank neuer Quellenfunde nicht nur ein neues Licht auf das berühmte Ehepaar wirft, sondern auch ein Zeitgemälde zeichnet: Die Industrialisierung schafft in den Städten des entstehenden Westfälisch-Rheinischen Industriebezirkes ungeheure Vermögen, doch die Enkel der reich gewordenen Schraubenfabrikanten wollen den Wäldern aus rauchenden Schloten entkommen, die sie umzingeln. Die Religion hat als sinnstiftende Kraft ausgedient, an ihre Stelle tritt die Kunst als Ersatzreligion.
Das schönste Museum der Welt
Mitten in diesem Umbruch an der Zeitenwende zu einem neuen Jahrhundert will der junge Karl Ernst Osthaus mit dem Erbe seiner Großeltern ein Privatmuseum gründen, das allgemein zugänglich sein soll. Stück für Stück verabschiedet er sich von seinen wilhelminisch geprägten ästhetischen Vorstellungen und lässt sich auf das Abenteuer der Moderne ein, ja, indem er als Sammler von Renoir, van Gogh, Cézanne und Matisse auftritt, macht er deren Kunst teilweise auch erst möglich. Heute gilt das inzwischen in Essen beheimatete Museum Folkwang als das schönste Museum der Welt.
Nach 1902 wird Hagen bis zu Osthaus‘ Tod 1921 für knapp 20 Jahre zum vibrierenden Zentrum der avantgardistischen Kunst- und Architekturszene, zum Denklabor für eine visionäre Stadtplanung. Graf Kessler mag über Osthaus und die „öde, schmutzige, verrußte, das Gemüt bedrückende Fabrikstadt“ noch so sehr die adelige Nase rümpfen, nach Hagen reisen muss er doch, wenn er das Wunderwerk des Folkwang-Museums sehen will. Und das gilt auch für Henri Matisse und Emil Nolde, das Ehepaar Rilke und die Architekten Gropius und Le Corbusier.
Kein ungebrochener Siegeszug
Doch die Gründung des Museums Folkwang und die Planung des Hohenhofs als architektonisches Gesamtkunstwerk sind kein ungebrochener Siegeszug. „Mir war es wichtig, das ganze Leben von Osthaus und seiner Frau sichtbar zu machen“, begründet Rainer Stamm seinen Ansatz. Der Kunsthistoriker ist selbst Hagener und seiner Heimatstadt eng verbunden. Er leitet als Direktor das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg. „In der Biographie von Osthaus gibt es zwei Tabuthemen: Das homosexuelle Coming-out von Osthaus und die tragische weitere Geschichte von Gertrud. Es ist wichtig, dass man unverkrampft über die Zerrissenheit dieser Persönlichkeiten schreibt.“
Möglich wurde diese Annäherung, weil Rainer Stamm das Vertrauen der Familie Osthaus besitzt und Zugang zu bisher unveröffentlichten Materialien aus dem Nachlass erhalten hat.
Heikle Themen angesprochen
Sein Leben lang ist Rainer Stamm fasziniert davon, wie in der Industriestadt Hagen ein Museum entstehen konnte, das in der westeuropäischen Kunstgeschichte immer Erwähnung finden muss. Gleichzeitig kann der Kunsthistoriker heute offener die Themen behandeln, die bei der Monographie von 1971 mit Rücksicht auf die noch lebende Gertrud Osthaus nicht angesprochen wurden. „Gertrud lebte bis 1975. Da wäre es unpassend gewesen, in einer Biographie zu schreiben, dass die Homosexualität von Osthaus das Gesamtkunstwerk Hohenhof zum Implodieren brachte. Auch über Gertruds spätere Verstrickung in den Nationalsozialismus kann man heute freier schreiben. Dafür muss man auch ihre soziale Situation beleuchten. Wie Osthaus stammt sie aus extrem reichem Hause. Frauen durften damals noch nicht studieren, sie konnte nicht Künstlerin werden, das tat man nicht. Sie konnte eigentlich nur heiraten.“
Immer Zeitgenosse
Rainer Stamm und Gloria Köpnick schildern, wie zwei Persönlichkeiten um ihre Aufgabe im Leben ringen, mit allen Widersprüchen. Stamm: „Gertrud Osthaus war vermutlich weltweit der einzige Mensch, der nacheinander mit Else Lasker-Schüler und Heinrich Himmler befreundet war. Und der Millionär Karl Ernst Osthaus tritt 1919 in den Arbeitsrat für Kunst ein. Er hat immer wieder den Mut, seine Überzeugungen über den Haufen zu werfen. Er wollte immer Zeitgenosse sein.“ So wird die Biographie von Gertrud und Karl Ernst Osthaus zum Spiegel eines Jahrhundertbeginns der Umbrüche. Stamm: „Die beiden sind nicht nur Museumsgründer und Sammler. Es ist die Geschichte von zwei großen Suchenden, auf der Suche nach Dingen, die es zumeist noch gar nicht gab.“
Stamm, Rainer / Köpnick, Gloria: Karl Ernst und Gertrud Osthaus. Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt. C. H. Beck Verlag, 29,95 €. Ab 5. Februar in Museumsshops und ab 17. Februar im Buchhandel.