Hagen. Mit Anna Vinnitskaya spielt ein Weltstar mit den Hagener Philharmonikern in Hagen. Warum das Konzert so überraschend war.
Virtuose Werke wie das berühmte Klavierkonzert Nr. 2 von Sergej Rachmaninow haben peinliche Bezeichnungen für Klaviersolisten wie Tastenlöwe oder Klaviertiger erst möglich gemacht. Denn sie sind so halsbrecherisch schwer zu spielen, dass die technischen Herausforderungen die musikalischen zu verdrängen drohen. Dabei ist „Rach 2“ die erste Komposition, die 1900/1901 am Anbruch eines neuen Zeitalters mit Hilfe der jungen Psychoanalyse entsteht. Die großartige Pianistin Anna Vinnitskaya interpretiert das Opus mit den Hagener Philharmonikern unter GMD Joseph Trafton jetzt in einem herausragenden Sinfoniekonzert als weit geschwungenes Seelengemälde voller Überraschungen.
In der ersten Klavier-Liga
Anna Vinnitskaya spielt in der ersten internationalen Klavier-Liga. Insofern ist es ein Glücksfall, dass sie in Hagen einspringen konnte. Die junge Solistin zeigt auf dem Podium keine Weltstar-Allüren, im Gegenteil, sie kommuniziert kollegial und warmherzig mit dem Orchester. So gelingt ihr eine Ehrenrettung des populären zweiten Klavierkonzertes, das von vielen männlichen Pianisten mit einem Overkill an romantischer Schaumschlägerei und virtuoser Zurschaustellung befrachtet wird. Früher mussten sich Pianistinnen sogar rechtfertigen, wenn sie einen „Elefanten“ wie „Rach 2“ auf ihre Programme setzten, man verglich ihre zarte Statur mit den physischen Anforderungen an die Partitur („Löwenpranken“) und gestand ihnen im besten Fall gönnerhaft und erstaunt einige Kraft in den Händen zu. Diese Zeiten, als Klavierspiel mit Zirkusartistik verwechselt wurde, sind vorbei. Niemand vermisst sie.
Viel zu sagen
Anna Vinnitskaya hat viel zu sagen mit dem Rachmaninow. Sie findet einen melancholischen, ja ernsten Grundton hinter der Virtuosität. Den großen langsamen Satz legt sie als Lied ohne Worte an, mit schönen, weitgespannten, regelrecht singenden Bögen und schier unbegreiflichen Aufhellungen in Rachmaninows dunkel skalierten Tonräumen. Vinnitskayas Spiel hat Schönheit und Tiefe; immer wieder legt sie mit archäologischer Präzision unbeachtete musikalische Motivschichten frei, so blitzen im Finale mit seinen aberwitzigen Akkordkaskaden sogar orientalische Anklänge auf – und Triller, die wie Grüße aus einer besseren Welt wirken.
GMD Joseph Trafton respektiert Vinnitskayas ungezähmten Blick auf Rachmaninow und unterstützt ihn mit einem aufmerksamen Dirigat; die Philharmoniker spielen mit Begeisterung und Leidenschaft – und wegen der Ansteckungsgefahr durch Omikron bis auf die Bläser mit Dienstmasken.
Ist „Rach 2“ an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts eine letzte Verbeugung vor der großen romantischen Klaviertradition, so gestaltet sich Béla Bartóks „Konzert für Orchester“ gewissermaßen als Requiem auf die europäische Musikkultur, die in Feuer und Vernichtung von Holocaust und Zweitem Weltkrieg zerbricht, als Bartók das groß besetzte Opus im US-Exil schreibt.
Orchester auch solistisch gefordert
Die Philharmoniker werden durch Nachwuchs der neuen Hagener Orchesterakademie verstärkt. Die Musiker und GMD Joseph Trafton sind in Bestform, und das müssen sie auch sein, denn das „Konzert für Orchester“ heißt so, weil das Orchester wie bei einem frühbarocken Concerto grosso zahlreiche solistische Aufgaben hat. Das führt zu einer überbordenden Fülle von Klangfarben und Farbkombinationen. Joseph Trafton arbeitet das Geheimnisvolle, ja Gespenstische heraus, das sich schon in der Bassmelodie der Einleitung spiegelt, die ein prächtiges Fugenthema abgibt.
Unbegreiflich dann die Elegie, in der sich aus dem Marschrhythmus der kleinen Trommel ein orchestraler Totentanz entwickelt. In den wiederum bricht ein gewaltiger Bläserchoral herein, ein Hilferuf an den lieben Gott. Aber das Gebet verstummt. Die kleine Trommel behält das letzte Wort.
Das Publikum feiert den herausragenden Abend mit außerordentlich langem Beifall. Bei Anna Vinnitskaya wollten die Bravo-Rufe gar kein Ende nehmen. Die Pianistin bedankt sich mit einer Zugabe, Étude Tableau Nr. 33 von Rachmaninow.
Anna Vinnitskaya und die hagener Philharmoniker spielen den Rachmaninow am Samstag, 5. Februar, um 20 Uhr auch im Parktheater Iserlohn. www.parktheater-iserlohn.de