Hagen. Die Märchenoper „Hänsel und Gretel“ gehört zu den beliebtesten Theaterstücken. Doch die neue Inszenierung in Hagen enttäuscht.

Es gibt Geschichten, die sind so gut, dass sie immer funktionieren. Die Märchenoper „Hänsel und Gretel“ gehört dazu. Am Theater Hagen reicht das nicht. Das Haus pfropft dem beliebten romantischen Meisterwerk von Engelbert Humperdinck jetzt eine Simultanerzählung als zusätzliches Video-Erklärstück auf. Aus dem Märchen wird ein greller Comic. Das ist bitter angesichts des Drucks, mit dem die Hagener Bühne um ihre Besucher kämpfen muss. Das Publikum feiert nach der Premiere ein engagiertes Ensemble mit Beifall im Stehen. Für die Regie gibt es Buhrufe und Bravos.

Für den Komponisten Engelbert Humperdinck (1854 – 1921) gehören die Erzählungen von der großen Hungersnot 1844 bis 1849 mit ihren vielen Toten zur Begleitmusik seiner Kindheit. Verschüttete Milch bedeutet in einer solchen Situation tatsächlich den Unterschied zwischen Überleben und Verhungern. Und nicht nur die Väter betäuben ihr Elend mit scharfem Schnaps, sondern auch die Mütter. Das Märchen „Hänsel und Gretel“ steht bei Humperdinck in einem sehr naturalistischen Rahmen. Die Verstoßung der Kinder durch die Mutter und die Verlockungen des Knusperhäuschens sind die Folgen von Hunger.

Kaltes Licht, grelle Farben in Hagen

Regisseur Holger Potocki und Ausstatterin Lena Brexendorff verlegen die Handlung in einen fast leeren, unabgetauten Kühlschrank. Das hat Konsequenzen für die optische Grundstimmung. Kaltes Licht, grelle Farben, mehr Kontrast zum romantischen Wald mit Sandmännchen, Taumännchen und den 14 Englein des Abendsegens ist nicht denkbar. Es gibt Comic-Zitate, der Kinderchor tritt in Gelb-Weiß und vereinzelten „Greg“-T-Shirts auf. Und die zusätzliche Video-Ebene erzählt die Geschichte eines Mädchens, das, versunken in ein Smartphone-Musikvideo, vergisst, einen Kuchen rechtzeitig aus dem Ofen zu holen, wie es ihm die Mutter aufgetragen hat.

Diese Interpretation ist handwerklich hervorragend gearbeitet, wie alle Inszenierungen von Potocki/Brexendorff, aber sie macht Humperdincks Märchenoper so klein. Und sie verschenkt die theatralischen Möglichkeiten, die sich aus den farbsatten Orchesterzwischenspielen ergeben, etwa im ersten Akt, wenn der Vater von den Hexen erzählt und vor allem natürlich beim nächtlichen Waldweben, wo die Angst im Dunkeln lauert, aber auch das Wunderbare. Normalerweise nutzen die Bühnen genau diese Szenen, um richtig tief in die Trickkiste zu greifen und zu zeigen, was der Zauberkasten Theater im Unterschied zu anderen Medien alles an Bildern auffahren kann und an Überraschungen bereit hält. „Hänsel und Gretel“ in Hagen hat hingegen keine Geheimnisse.

Der Wald ist eine Eiswüste

Die Regie behilft sich an diesen Stellen mit Videoprojektionen. Der Wald ist eine Eiswüste. Das Reich der Hexe besteht aus den Trümmern der Rückwand des Kühlschranks, der sich wie bei den „Ghostbusters“ als Einfallstor in eine andere Welt erweist. Wenn Tenor Richard van Gemert als überaus erfolgreich-fiese Hexe auf einer funkensprühenden Frühlingszwiebel reitet, ist das lustig und ein bisschen unanständig, aber eher grotesk als magisch.

Dirigent Rodrigo Tomillo legt dagegen die Partitur schwelgerisch an. „Hänsel und Gretel“ ist die Hornoper schlechthin, die Hörner grundieren das Waldweben und schaffen musikalisch jene Sehnsuchtswelt, in welche die Kinder sich vor der Not flüchten. Auch die anderen Pulte glänzen mit fein ausmusizierten Soli. Tomillo findet eine schöne Balance zwischen den großen Orchestersteigerungen und den zahlreichen gut ausgehörten kammermusikalischen Passagen und setzt vor allem die Volkslieder sensibel in Szene, aus deren musikalischem Gerüst Humperdinck große Kunst komponiert. Diese Volkslieder sind es, mit deren Hilfe den Kindern früher der Jahreskreislauf und die Natur erklärt wurde.

Großartige Sänger

Hänsel und Gretel sind ein großartiges Sängerpaar. Hanna Larissa Naujoks und Penny Sofroniadou füllen ihre Rollen stimmschön und mit fröhlicher Spielfreude aus. Bariton Insu Hwang hat als Besenbinder stellenweise mit den Höhen der Partie zu kämpfen, verleiht ihr aber viel Charakter. Angela Davis legt die Mutter mit spannenden dramatischen Sopran-Akzenten an; sie singt und spielt eine Frau, die über den Rand des Erträglichen getrieben wird.

„Hänsel & Gretel“ ist eine aktuelle Oper. Auch das Publikum muss bildlich gesprochen wegen der Coronapandemie im dunklen Wald der Angst einen Ausweg finden. Wie sich die Pandemie auf das Kulturleben und die Theater auswirken wird, ist völlig offen. An frühere ästhetische Gepflogenheiten werden die Bühnen kaum anknüpfen können. Dazu gehört auch die Gewohnheit, gerade den populären Geschichten, den Zugpferden auf dem Spielplan, zutiefst zu misstrauen und sie mit teils abenteuerlichen Ideen zu zertrümmern. Diese Lesarten zielen nicht auf das Publikum, sondern auf die Theaterblase mit ihrem selbstgesetzten Zwang zur Originalität. Jetzt kommen die Besucher allerdings nur sehr zögerlich zurück. Und die, die kommen, haben sich verändert. Nun müssen die Bühnen das Glücksversprechen des Theaters einlösen. Der Komponist Engelbert Humperdinck liefert dafür eine schöne Utopie: Selbst in der größten Not haben Hänsel und Gretel noch ihre Lieder und ihre Träume.

Der Komponist Engelbert Humperdinck

Die Musikwelt erinnert in diesem Jahr an den 100. Todestag des Komponisten Engelbert Humperdinck, der am 1. September 1854 in Siegburg geboren wurde, in Paderborn sein Abitur machte und am 27. September 1921 in Neustreliz starb. Die Region hat eine besondere Beziehung zu dem Komponisten. Sein Sohn Wolfram Humperdinck machte sich am Theater Hagen als Opernregisseur einen Namen.

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